6 Dinge, gelernt bei der DFB-Elf Löw fehlt Mut, Publikum pennt, Özil schlurft
26.03.2015, 14:58 Uhr
Bedingt experimentierfreudig: Joachim Löw.
(Foto: imago/Moritz Müller)
Weltmeisterliche Begeisterung war gestern, der Betze goutiert das experimentelle deutsche Gekicke nicht. Dabei hat Bundestrainer Löw durchaus einen Plan für seine DFB-Elf. Er muss sich nur trauen. Und Özil wecken.
1. Die WM-Euphorie ist Geschichte
Über das Publikum bei deutschen Länderspielen ist schon viel geschrieben und geschimpft worden. Nur weil ein Spiel an einem Ort stattfindet, der sonst als Stimmungstempel gilt, garantiert das dem DFB noch keine Euphorie. Das war an diesem Mittwochabend auf dem Betzenberg beim 2:2 im Testspiel gegen Australien gut zu besichtigen, als sich das Geschehen auf Rasen und Rängen komplett entkoppelte - und einige Fans des Zweitligisten 1. FC Kaiserslautern vehement von den Zuschauern in ihrem Stadion distanzierte.
"Eine Skandal von euch, das heutige Event Publikum als 'Lautrer' zu bezeichnen. @ntvde_sport #betze #GERAUS" kommentierte ein Twitterer unsere Verwunderung über das "komatöse Lauterer Publikum", das mit mehrheitlich großer Gleichgültigkeit für eine Geisterspiel-Atmosphäre im vollbesetzten Stadion sorgte und klar machte: WM-Titel schön und gut, aber das allein sorgt 2015 nicht mehr für Euphorie im Publikum. Während anderswo bei Gastspielen der Löw'schen Eleven gerne schon vor dem Anpfiff die eine oder andere bier- und titelstolzgeschwängerte La Ola durchs Stadion schwappte, Ende 2014 in Nürnberg selbst beim EM-Qualifikationsspiel gegen Fußballzwerg Gibraltar, glänzte das Publikum in Kaiserslautern durch stoische Nicht-Reaktion auf das experimentelle deutsche Gekicke. Es schwieg und murrte vor sich hin und wachte nicht einmal nach der 1:0-Führung auf. Im vorerst letzten Länderspiel blieb dem deutschen Team damit immerhin erspart, was den DFB-Kickern am 18. Juni 1974 beim ersten Kräftemessen mit Australien widerfahren war. Damals, während der Heim-WM, gewann Deutschland locker mit 3:0 - und wurde vom Hamburger Publikum ausgepfiffen. Der Sieg war ihnen einfach zu mickrig ausgefallen.
2. Manuel Neuer ist unersetzlich
Tore: 1:0 Reus (17.), 1:1 Troisi (40.), 1:2 Jedinak (50.), 2:2 Podolski (81.)
Deutschland: Zieler (Hannover, 26 Jahre, 5 Länderspiele) - Mustafi (Valencia, 22/7), Höwedes (Schalke, 27/32), Badstuber (FC Bayern, 26/31) ab 46. Rudy (Hoffenheim, 25/6) - Khedira (Real, 27/54) ab 63. Kramer (Gladbach, 24/9) - Bellarabi (Leverkusen, 24/5) ab 63. Schürrle (Wolfsburg, 24/43), Gündogan (BVB, 24/9), Özil (Arsenal, 26/63), Hector (Köln, 24/2) - Götze (FC Bayern, 22/42) ab 73. Kruse (Gladbach, 27/11), Reus (BVB, 25/24) ab 73. Podolski (Inter, 29/122). Trainer: Löw
Australien: Ryan (Brügge, 22/20) - Franjic (Torpedo Moskau, 27/19), Wilkinson (Jeonbuk, 30/20) ab 78. Wright (Preston, 22/2), DeVere (Brisbane, 25/1), Davidson (West Bromwich, 23/18) - Jedinak (Crystal Palace, 30/57), McKay (Brisbane, 32/55) - Milligan (Melbourne, 29/39) ab 68. Mooy (Melbourne, 24/5), Troisi (Waregem, 26/22) ab 87. Juric (Sydney, 23/11) - 16 Burns (Wellington, 26/11) ab 60. Oar (Utrecht, 23/23), Leckie (Ingolstadt, 24/23). - Trainer: Postecoglou
Schiedsrichter: Michael Oliver (England)
Zuschauer: 47.106 (ausverkauft)
"Manu der Libero", das war eine der schönsten deutschen WM-Geschichten aus Brasilien. Ohne Manuel Neuer im Tor hieße der amtierende Fußballweltmeister jetzt womöglich Frankreich, Argentinien, Brasilien - oder Algerien. Das Achtelfinale, als er die kecken Nordafrikaner in Porto Alegre mit Rettungstaten in Serie außerhalb seines Strafraums nahezu im Alleingang stoppte, war eine der denkwürdigsten Torhüterleistungen der WM-Geschichte. Neuer überzeugte nicht nur mit den Händen, sondern erschuf den Allround-Torwart: Der kann Bälle halten, Bälle ablaufen, Bälle weggrätschen, mit dem Ball am Fuß dribbeln oder den ersten Ball im Spielaufbau an den Mann bringen. Wie wichtig die Feldspielerqualitäten des besten Torwarts der Welt für das DFB-Spiel sind, hat gegen Australien Ron-Robert Zieler bewiesen. Der Hannoveraner ist ein Guter, beim 1:0-Sieg in Vigo gegen Spanien war er Ende 2014 sogar der beste Deutsche. Gegen die Australier betätigte sich Zieler mit seinen Paraden aber sowohl in der Abteilung Begeisterung als auch mit Neueresken Ausflügen und Dribbelversuchen im Fachgebiet Entgeisterung. Das Publikum im Stadion nahm es mit Gleichmut hin, dem Bundestrainer dürfte wiederholt Schnappatmung und Sehnsucht nach dem Original im DFB-Tor befallen haben. "Da hat uns insgesamt die richtige Lösung gefehlt, hinten raus zu spielen", sagte der Bundestrainer zu Zielers unbeholfenen Aufbauversuchen hinter einer unbeholfenen Abwehr. Löw klang erleichtert, als er außerdem sagte: "Am Sonntag wird der Manuel Neuer im Tor stehen."
3. Kaiserslautern ist Australiens Fußball-Hauptstadt
Am 12. Juni 2006 machte sich Tim Cahill in seiner Heimat Australien unsterblich - mit einem Treffer in Kaiserslautern. 84 Minuten waren im WM-Vorrundenspiel gegen Japan gespielt, Australien lag mit 0:1 zurück, als Cahill aus dem Gewühl zum 1:1 traf. Dem ersten australischen WM-Tor überhaupt folgten in der 89. und 90. Minute zwei weitere Treffer zum ersten australischen WM-Sieg überhaupt, am Ende der Vorrunde hatten sich die Socceroos erstmals für die K.o.-Runde qualifiziert und durften im Achtelfinale erneut in Kaiserslautern ran. In einem begeisternden Spiel hatten sie den späteren Weltmeister Italien am Rande einer Niederlage und schieden nur durch einen noch heute umstrittenen Elfmeter in der Nachspielzeit aus. Was blieb, war der Eindruck: Australien und Kaiserslautern trennen zwar mehr als 16.000 Kilometer, wie ein Schild im Stadtzentrum verrät - aber das passt irgendwie. Neun Jahre später haben die Socceroos diesen Eindruck bestätigt, schon vorher hatte Trainer Ange Postecoglou gesagt: "Es wird eine besondere Rückkehr ins Stadion werden." Die wurde es. Australien war im Duell der Meister der bessere, griffigere, variablere und hätte den Sieg verdient gehabt, sagte Postecoglou. Widersprechen wollte niemand.
4. An Mesut Özil scheiden sich die Geister
Mesut Özil ist und bleibt der wohl umstrittenste Stammspieler in der Mannschaft von Joachim Löw. Über die technischen Fähigkeiten und kreativen Momente des 26-Jährigen bestehen keine Zweifel. Vielmehr sind seine Ausstrahlung und seine Präsenz regelmäßig Gegenstand von hitzigen Stammtischdiskussionen oder journalistischen Kommentaren.
Vor allem bei den Fans des FC Arsenal und den Vertretern der englischen Medien ist Özil zum Lieblingsobjekt negativer Kritik geworden. Nur der Bundestrainer hält eisern zum sensiblen Feingeist, noch eiserner als zu Lukas Podolski. So attestierte er ihm auch gegen Australien eine gute Leistung, nannte ihn in einem Atemzug mit Mario Götze und Marco Reus. Dabei wirkten die beiden deutlich engagierter als der oft etwas schluffig und fahrig daher kommende Londoner. In den Aktionen der Bundesligaprofis steckte gegen Australien erneut mehr Dynamik, mehr Zielstrebigkeit als in Özils Bemühungen, den Ball weiterzuspielen. Oft kamen seine Abspiele zu spät, zu ungenau. Oft waren seine Weitergaben aber auch einfach nur unmotivierte Querpässe über wenige Meter. Das ist deutlich zu wenig für einen Mann mit Weltklasse-Potenzial. Gegen Georgien, so machte der Bundestrainer nach dem Spiel am Mittwochabend klar, werde auf jeden Fall Thomas Müller in die Startelf rutschen. Auch Toni Kroos gilt als sicherer Kandidat für einen Einsatz von Beginn an. Bleiben noch zwei Plätze in der Offensive - Özil wird sicher einen davon belegen.
5. Die Abwehr bleibt Löws Großbaustelle
Das von Kaiserslauterns Vorstandschef Stefan Kuntz prophezeite 5:3 wurde es zwar nicht. Die Partie zeigte aber: In der Offensive hat die DFB-Elf stets das Vermögen, mindestens einen Treffer, eher aber mehrere Tore zu erzielen. Wo es dagegen gravierend rumpelt, ist die Defensive. Was sich in den ersten EM-Qualifikationsspielen angedeutet hat, fand beim Länderspielauftakt 2015 seine Fortsetzung. Dem Team von Joachim Löw fehlt es an der Balance zwischen Abwehr und Angriff. Und wenn dann auch noch die letzte Reihe wackelt wie ein Lämmerschwanz, wird’s richtig eng. Da kann der Bundestrainer den tatsächlich richtig guten Gegner noch so stark reden, die Probleme sind mehr als nur eine Banalität. Natürlich war "Australien frech". Natürlich war "Australien mutig". Natürlich "hat Australien hoch attackiert". Alles richtig Herr Löw, aber gegen die Nummer 65 der Welt reicht es nicht aus, nur von ein paar Problemen beim hinten Rausspielen zu sprechen.
Die Defizite sind besorgniserregender, unübersehbar und klar zu benennen. Bereits vor dem Rücktritt von Philipp Lahm waren international konkurrenzfähige Außenverteidiger Mangelware. Nach dem Rücktritt des Bayernprofis sind sie nicht mehr verfügbar. Junge Leute wie der Kölner Jonas Hector oder der Hoffenheimer Sebastian Rudy machen ihre Sache gut. Sie hängen sich rein, machen wenig Fehler, versuchen sich offensiv einzumischen. Aber sie sind noch ein gutes Stück entfernt von weltmeisterlichem Niveau. Weil Löw um diesen Missstand weiß, hat er bereits bei der WM in Brasilien mit den gelernten Innenverteidigern Shkodran Mustafi und Benedikt Höwedes auf links und rechts experimentiert. Das war mal gut, mal nicht so gut. Aber auf jeden Fall nie optimal. Gerade deswegen sind Gedankenspiele mit der Umstellung auf eine Dreierkette absolut richtig. In Deutschland gibt es eine Menge richtig guter Innenverteidiger, mit Jerome Boateng und Mats Hummels (in Normalform) sogar zwei der Besten der Welt, wie sie im Sommer 2014 in Brasilien eindrucksvoll bewiesen haben. Die Nationalmannschaft hat genug Potenzial für eine stabile Defensive, der Bundestrainer muss sich nur trauen, dass System entsprechend umzustellen.
6. Löw braucht Plan B, mehr Zeit und Mut
Mit dem WM-Titel hat der Bundestrainer sich und Deutschland einen Traum erfüllt. Bei einer anderen Traumverwirklichung ist er mit seiner DFB-Elf gerade im Rohbau angekommen. Löw träumt von einer neuen taktischen und personellen Flexibilität seiner Mannschaft, die ihm ermöglicht, was Gladbachs Trainer Lucien Favre am Sonntag in München gelungen war: große Trainersiege zu feiern, errungen durch das überlegende Konzept, das im Spiel auch gerne wechseln darf. In Kaiserslautern setzte Löw die 2014 begonnene Arbeit am Ziel der taktischen Polyvalenz fort "Ich denke wir haben jetzt lange von der Systematik her immer gleich gespielt. Da ist es einfach auch gut, mal die eine oder andere Veränderung einzubringen", dozierte der Bundestrainer über seinen Versuch mit der Dreier-Abwehrkette. Das hatte beim Sieg in Spanien zwar erstaunlich gut funktioniert, erwies sich in Kaiserslautern mit Rückkehrer Badstuber aber noch als zu fehleranfällig. "Ich bin bereit, das Risiko auch mal einzugehen in solchen Spielen. Das ich einfach sage: Wir probieren jetzt einfach mal was, auch wenn dann Fehler passieren. Es wird schon auch Monate dauern. Auf Knopfdruck, habe ich gesagt, wird das nicht so einfach funktionieren." So weit, so verständlich, zumal die Dreierkette unbestritten taktische Vorteile im Umschalt- und Überzahlspiel bietet. Verwunderung herrschte nur darüber, warum Löw lediglich 45 Minuten experimentierte. Nach Badstubers Auswechslung stellte er in der zweiten Halbzeit auf eine Viererkette um, statt mit wechselndem Personal konsequent weiter zu experimentieren. Gebracht hat’s nix. Die Mannschaft fast noch verunsicherter - so war es quasi ein doppelter Schritt zurück auf dem Weg vom Rohbau zur neuen deutschen DFB-Festung.
Quelle: ntv.de