Das Wunder unterm Vesuv Über Neapels Hafen glühen die ewigen Diego-Feuer
05.05.2023, 07:58 Uhr
Unterm Vesuv glühte die Lava.
(Foto: IMAGO/ZUMA Press)
Der erste Scudetto in diesem Jahrtausend, der erste seit Diego. In Italien spielt sich ein modernes Fußball-Wunder ab. Die SSC steigt aus der Asche der Insolvenz empor, gibt dem Süden des Landes den Stolz zurück. Nach dem 1:1 bei Udinese Calcio gibt es kein Halten mehr und oben leuchtet Maradona.
Es ist die denkbar schlechteste Metapher, aber eben die passendste: Als sich die SSC Neapel am Donnerstagabend nach 33 zehrenden Jahren wieder zum italienischen Fußball-Meister gekürt hatte, da brachen die Gefühle aus den Gli Azzuri heraus wie glühende Lava. Man soll ja am Fuße des Vesuvs nichts heraufbeschwören, schließlich liegt der letzte Ausbruch knapp 80 Jahre zurück, aber es war eben eine vulkaneske Eruption, die die Hauptstadt der Region Kampanien erschütterte. 60.000 Menschen brachen im Stadio Diego Armando Maradona in Tränen aus, 10.000 waren es in Udine. Dort holt die SSC beim 1:1 den letzten Punkt. Alle Zweifel waren ausgeräumt.
Um zu begreifen, welche Lava-Brocken von den geschundenen Seelen der Neapolitaner gefallen sind, braucht es einen Blick in die Jahre 1990 und 1991. Damals verzauberte Maradona diesen leidenschaftlichen Klub, die Stadt, das Land, den Kontinent. 1990 stürmte die Mannschaft zum zweiten Meistertitel. Der argentinische Weltstar und seine genialen Kumpel Bruno Giordano und Careca, die Angriffsreihe "Ma-Gi-Ca", waren eine Fußball-Sensation. Doch die Zeit auf dem Thron endete abrupt. Maradona stürzte ab und mit ihm der Klub. Wegen Dopings wurde das Genie gesperrt, der Verein offenbarte schwere finanzielle Turbulenzen.
Es folgten Jahre voller Demütigungen und zerstörten Hoffnungen: Abstiege, Aufstiege, Lizenzentzug, Konkurs. Das war 2004. Der Verein wurde neu gegründet. Nur einer blieb: Diego! Als Neapel sich nun auf den Titel vorbereitete, thronte er, der im November 2020 verstorbene, über der Stadt, blickte auf die Menschen von Wandgemälden. Er beobachte sie aus den mit Liebe gezimmerten Schreinen, die sich an jeder Ecke dieser in Vorfreude ganz blauweiß werdenden Hafenstadt breitmachten. Fußball ist in Napoli Glaube und Diego der Heilige.
Spalletti bislang nur in Russland Meister
Wer diesen Weg kennt, ihn mitgegangen ist, zu den 37.000 Zuschauern (im Schnitt) gehörte, die ihre Mannschaft auch in der 3. Liga nicht im Stich ließen, der darf wohl nun vom schönsten Tag in seinem Fanleben sprechen. Zur Geschichte des Klubs und seinem nicht unbedingt beliebten Präsidenten Aurelio de Laurentiis, diesem 73-jährigen Filmproduzenten, der Napoli 2004 ganz unten abholte, hätte indes viel besser gepasst, wenn der dritte Scudetto der Vereinsgeschichte von mehr Drama begleitet worden wäre. Von einem Last-Minute-Wunder oder etwa Ähnlichem. Aber der Weg zum Titel war seit Wochen frei von Hindernissen. Der größte Spannungsbogen: Wann ist es denn endlich so weit? Bereits am vergangenen Sonntag hatten sich Klub und Stadt auf die Ekstase vorbereitet, der Vesuv war gesperrt worden.
Auch am Mittwochabend wiederholte sich das Spiel. Hätte der letzte "Verfolger" Lazio Rom nicht gegen Sassuolo Calcio gewonnen, wäre Neapel schon jetzt im ultimativen Party-Rausch. Aber Vorfreude ist bekanntlich eh viel schöner und ein Titel auf dem Platz erspielt viel emotionaler als einer vom Sofa gewonnen. Und so brach es aus allen heraus. "Wir können die Feier kaum noch erwarten", sagte Kapitän Giovanni di Lorenzo. Seine Haare waren da bereits blau gefärbt.
Victor Osimhen, der mit seinem 22. Ligatreffer den Titel sicherte, jubelte: "Niemand verdient den Scudetto mehr als die Neapolitaner, mehr als wir." Der 24-jährige Nigerianer, der in Wolfsburg gescheitert war, schwang sich mit seinem 46. Tor in der Serie A zum Afrikaner mit den meisten Treffern in Italiens Topliga auf. Er steht nun auf einer Stufe mit George Weah. "Mir egal, wer getroffen hat. Ich wollte nur den Scudetto holen", sagte Osimhen. Trainer Luciano Spalletti, der in Russland mit Zenit St. Petersburg zwei Meisterschaften gewonnen hatte, sagte: "Neapel, dieser Titel ist für Dich! Es gibt da Menschen, die allein mit der Erinnerung an diesen Moment, schwierige Phase in ihrem Leben durchstehen werden. Diese Menschen verdienen all die Freude!"
Und wie groß sie war, dort unterm Vesuv, rund 500 Kilometer vom norditalienischen Udine entfernt. Das Feuerwerk über Neapel wollte nicht mehr enden. Auf der Piazza del Plebiscito nahe dem Hafen drängten sich die Menschen. Sie sangen, feierten, brannten Leuchtraketen ab und lagen sich in den Armen. Die Nacht blieb nicht ganz ohne Zwischenfälle. Ein 26-Jähriger verstarb nach Polizeiangaben infolge von Schussverletzungen. Drei weitere Personen wurden durch Schüsse verletzt, drei andere mussten wegen Verletzungen durch Böller und Feuerwerkskörpern an den Händen behandelt werden.
Aus dem Übergangsjahr wird ein Meisterjahr
Aber wie geht es weiter? Immer höher hinaus? Der SSC droht ein bitteres Schicksal auf dem Transfermarkt. Die Spieler, die den Scudetto maßgeblich zu verantworten haben, wecken natürlich Begehrlichkeiten. Allen voran Osimhen. Real Madrid, Paris St. Germain, Manchester United, der FC Chelsea und der FC Bayern sollen Interesse an dem Nigerianer haben, für den Neapels Manager Cristiano Giuntoli im Sommer 2020 alle Zurückhaltung auf dem Transfermarkt verwarf. Nach nur einer starken Saison des Stürmers bei OSC Lille legte er 75 Millionen auf den Tisch - ein Investment, das sich voll ausgezahlt hat. Osimhens Marktwert liegt mittlerweile bei 100 Millionen Euro, eine mögliche Ablöse dürfte noch höher liegen. Das gilt auch für all die anderen Helden dieser Mannschaft, die "billig" eingekauft worden und mittlerweile umworben sind.
Ein weiteres Beispiel: Khvicha Kvaratskhelia. Der Georgier kam vor der Saison von Dinamo Batumi. Neapel zahlte 11,5 Millionen Euro. Eigentlich hätte er schon früher wechseln sollen, doch er war Giuntoli und de Laurentiis zu teuer. Das mag auf den ersten Blick reichlich eigenartig erscheinen. Aber der Präsident hat dem Klub nach der Neugründung und dem Absturz in die 3. Liga ein klares Mantra verschrieben und das lautete Haushaltsdisziplin. Der unterliegt auch Giuntoli und scheut davor auch unpopuläre Entscheidungen nicht. Um Kvaratskhelia und Innenverteidiger Min-jae Kim zu verpflichten, verkaufte er die Stars Lorenzo Insigne, Kalidou Koulibaly und Dries Mertens. Gut kam das bei den Fans nicht an. Sie witterten die nächste Enttäuschung. Die Saison 2022/2023 sollte ein Übergangsjahr werden.
Und ganz oben feiert Diego
Doch es ging nicht vulkanabwärts, sondern weiter Richtung Spitze. Mit Kvaratskhelia, mit Osimhen und Hirving Lorenzo, "Kv-Os-Lo", mit den Herren-Überall Stanislav Lobotka, Piotr Zieliński und Anguissa. Kein Raum, den sie nicht verdichteten. Neapels Weg ist ein über jahrelang mit kluger Transferpolitik vorbereitetes Märchen. Mitte dieser Saison galt der SSC sogar als beste Mannschaft in Europa. Eintracht Frankfurt bekam das im Achtelfinale der Champions League zu spüren. Sang- und klanglos schied der Bundesligist aus. Das Kollektiv der SSC funktioniert herausragend, einzelne Fußballer wurden zu Rising Stars. Aber Neapel wäre nicht Neapel, wenn es nicht auch Drama gebe. In der Runde der besten acht Mannschaften scheiterte das Team im Königsklassen-Duell am AC Mailand. Vielleicht keine Sensation, aber dennoch eine faustdicke Überraschung. Überhaupt erlebt der italienische Fußball in dieser Saison eine wundersame Auferstehung. Drei Vereine im Champions-League-Viertelfinale, die stellte keine andere Top-Liga, nicht mal die Engländer, die seit Jahren dominant sind.
Doch diese erste Meisterschaft eines Teams südlich von Mailand und Turin seit Romas Triumph 2001, sie überlagert alles. Und von oben blickte Diego herab. Was für ein Jahr für die Ikone des Weltfußballs. Weltmeister mit Argentinien im Dezember, jetzt Meister mit der SSC. Luciano Spalletti war sich zumindest sicher. Er konnte ihn fühlen. Und mit ihm eine ganze Stadt.
Quelle: ntv.de