Fußball

Tuchels Verhalten rückt in Fokus Was beim FC Bayern derzeit alles schiefläuft

Ratlos.

Ratlos.

(Foto: IMAGO/Ulrich Hufnagel)

Beim FC Bayern sehnen sie in diesen Tagen nichts mehr herbei als einen souveränen Sieg für eine dringend nötige Atempause. Eine Befreiung von der schwer drückenden Last, die die Fußballer derzeit mit sich herumtragen, die sie lähmt und leiden lässt. Das ist ein bemerkenswerter Satz über den Rekordmeister, der nach der herben Pleite bei Bayer 04 Leverkusen in der Bundesliga und der frustrierenden und nur schwer zu erklärenden Niederlage bei Lazio Rom im Achtelfinal-Hinspiel der Champions League in wilde Turbulenzen geraten ist. Trainer Thomas Tuchel wirkt ratlos, seine Fußballer mutlos. Die Abwehr leistet sich immer wieder Blackouts, das Mittelfeld bekommt keine Dominanz ins Spiel und Starstürmer Harry Kane hängt in der Luft. Tuchel verliert sich in taktischen sowie personellen Experimenten und vermittelt an der Seitenlinie keinen guten Eindruck mehr. Eine Übersicht über die großen Baustellen beim Rekordmeister.

Tuchel und sein Verhalten an der Seitenlinie: Klar, im Erfolg geht vieles einfacher von der Hand. Deswegen ist ein Vergleich mit Xabi Alonso, dem Supertrainer von Bayer Leverkusen vielleicht auch nicht ganz fair. Aber der Spanier strahlt in diesen Wochen das aus, was man sich vermutlich auch beim FC Bayern wünschen würde. Da steht einer an der Seitenlinie, der seine Mannschaft korrigiert und motiviert. Auch wenn sie Fehler macht. Die gibt es bei der Rekordmeister-Elf derzeit in einem ungewöhnlichen Überfluss. "Das war schon fast Slapstick, wie wir uns von Fehler zu Fehler gerettet haben", analysierte Thomas Müller nach der Pleite gegen Lazio (0:1). Dayot Upamecano hatte einen völlig unnötigen Elfmeter samt Roter Karte verursacht. Das Team, befand Müller, sei "das Gegenteil von einer gefestigten Einheit".

Und auf der Suche nach Halt kann Tuchel offenbar nicht (mehr) helfen. Zwar coacht er aktiv, aber immer wieder schüttelt er den Kopf, wendet sich ab oder vergräbt das Gesicht in den Händen. Er suggeriert seinen Spielern damit, wie wenig einverstanden er mit den Dingen ist, die da auf dem Feld passieren (oder eben nicht), wie fassungslos er in manchen Situationen ist. Wie allein er sich fühlt, nur ganz anders als einst Fußball-Kaiser Franz Beckenbauer, der 1990 im Moment des WM-Triumphs, an gleicher Stelle ein Bild für die Ewigkeit schuf. Irgendwie wirkt beim FC Bayern gerade jeder von jedem genervt.

Schon in den Wochen zuvor war das Thema aufgekommen, dass der Trainer bisweilen seltsam entfernt von seiner aktuellen Aufgabe wirkt. Auch in der Analyse. Das sind natürlich immer gefühlte Wahrheiten, die sie in München regelmäßig dementieren. Der Trainer sei engagiert, unzufrieden und suche nach Lösungen, heißt es. Aber es heißt auch: Antworten sind dringend erwünscht. Wie angespannt die Lage ist, offenbarte der Verein, als er angekündigt hatte, "unsachliche Kritik" nicht mehr akzeptieren zu wollen. Das war eine allzu offensichtliche Watschn für Dietmar Hamann, den gnadenlosen Sky-Experten, der mit seiner "Frechheit"-Vernichtung über das Ziel hinausgeschossen war. In diesem unversöhnlichen Disput versprühte Tuchel indes zuletzt das meiste Feuer.

Der ewig ratlose Tuchel und seine Kommunikation: Wieder einmal wusste der Trainer des FC Bayern nicht, was mit seiner Mannschaft los war. Nach einer sehr ordentlichen ersten Halbzeit in Rom brachen die Münchner nach der Pause in sich zusammen. Ohne, dass er nach dem Seitenwechsel nennenswerte Dinge geändert haben wollte, so Tuchel. Wieder einmal bemühte er das Wort "ratlos", das er in verschiedenen Ausprägungen schon so oft benutzt hatte. Das ist, wenn man es für bare Münze nimmt, ein Genickbruch-Urteil in seinem Amt. Wie soll ein ratloser Mensch Dinge, die kippen, wieder stabilisieren? Klar, oft fällt die Einschätzung unmittelbar nach dem Spiel, in einer ersten Emotion. Wenige Tage danach findet Tuchel auf seinen analytischen Weg zurück. Ohne allerdings eine Lösung für die Probleme zu finden.

Dabei geht er auch überraschend rücksichtslos vor. Im Sommer schwächte er Joshua Kimmichs Rolle als Mittelfeldchef mit seinen Forderungen nach einer "Holding Six", also nach einem defensiv denkenden Sechser. Kimmich selbst sah sich durchaus in der Rolle und ließ das durchblicken. Überhaupt können ihm seine wiederholten Forderungen nach sündhaft teuren Neuzugängen auch als Misstrauensvotum gegenüber des eigenen Aufgebots ausgelegt werden. Auch Leon Goretzka schwächte er in der sommerlichen Vorbereitung, als er den Nationalspieler eher außen vor sah. Und jetzt knallt er Talent Mathys Tel um die Ohren, dass dieser sein Momentum verloren habe, nicht mehr den absoluten Willen habe. Matthijs de Ligt versteht die Welt nicht mehr, warum er nicht spielt, selbst wenn die Konkurrenz erschöpft und gerade erst wieder fit geworden ist. Und über Thomas Müller braucht es kaum noch Worte.

Weitere Nachfragen zu seiner Situation wollte Bayern-Trainer Thomas Tuchel nicht beantworten.

Weitere Nachfragen zu seiner Situation wollte Bayern-Trainer Thomas Tuchel nicht beantworten.

(Foto: Sven Hoppe/dpa)

Zwar akzeptiert die Klubikone seine Joker-Rolle ziemlich klaglos, aber längst ist der Begriff "Thomas-Müller-Spiele" zu einem geflügelten Wort geworden, für die Schwierigkeit, die Tuchel mit dem Spiel des 34-Jährigen hat. Denn "Thomas-Müller-Spiele" gibt es eigentlich nur noch, wenn dem Duell die ganz große Relevanz oder wenn es brennt. Dass er denn noch derjenige ist, dem die Lage am meisten zusetzt, ist durchaus bemerkenswert. Dort wo Tuchel ratlos und kühl analytisch erscheint, drückt Müller mit voller Kraft auf die Hämatome am Bayern-Korpus: Eier fehlen, Freiheit zum Zocken. Alles sei nur noch verkopft. Eine Brandrede, die es ihn sich hatte, hielt er nach dem Debakel in der BayArena. Der Trainer war da in die Katakomben abgerauscht und kam erst später zurück.

Die Trainerdebatte: Am Standort München läuft alles schneller als anderswo. Zwei Niederlagen schicken die Mannschaft in eine Krise. Und der Trainer ist auch nicht frei von Diskussionen. Nun gibt es bei Tuchel eine längere Vorgeschichte. Zwar stimmte die Punkteausbeute bis zum 20. Spieltag, aber nicht die Leistungen. Der Trainer hatte sich immer wieder darauf berufen, dass der Kader zu dünn sei (die Unwucht entstand im Rausch des Harry-Kane-Deals und den nicht kompensierten Abgängen von Benjamin Pavard und Josip Stanisic), und für seine These nahezu wöchentlich neues Futter bekommen. Weil er aber in Summe erfolgreich war, außer im DFB-Pokal, wurde eine Diskussion über den 50-Jährigen nur leise geführt. Und vor allem in Runden, die dem FC Bayern ohnehin nicht zuneigt sind.

Nun aber gewinnt die ganze Sache mächtig an Fahrt. Und niemand ist da, der auf die Bremse steigen kann. Sogar der Name Hansi Flick wird gehandelt, wenn es um mögliche Nachfolger geht. Dass diese Diskussion überhaupt solche Blüten treiben kann, hängt auch mit der halbherzigen Kommunikation zusammen. Früher zündeten Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge eine Nebelkerze nach der anderen, attackierten einen Konkurrenten oder zogen alle Aufmerksamkeit auf sich. Das nahm den Fokus von der Mannschaft. Dieses mächtige Wort aber fehlt mittlerweile.

Muss Tuchel akut um seinen Job fürchten? Natürlich musste diese Frage kommen. Bei der Presserunde nach dem Lazio-Spiel wurde sie Tuchel mehrfach um die Ohren gehauen. Gereizt betonte er, dass er sich keine Sorgen mache. Und hatte hör- und spürbar keine Lust auf dieses Thema. Auf mehrfache Nachfrage, warum er noch der richtige Mann sei, schritt sogar Pressesprecher Dieter Nickles ein. Stand jetzt soll es für ihn weitergehen, das berichtet die "Bild". Immer wieder heißt es, dass Uli Hoeneß zu Tuchel halte und sich wieder Konstanz auf der Position wünscht. Zu viele Toptrainer wurden in den vergangenen Jahren verbrannt, unter anderem eben Flick, Julian Nagelsmann oder Phänomen Carlo Ancelotti.

Am Sonntag steht das nächste Spiel an, im Bochumer Ruhrstadion (ab 17.30 Uhr bei DAZN und im Liveticker bei ntv.de). Eine absolute Pflichtaufgabe gegen die allerdings heimstarke VfL-Elf. Wie sich die Lage um den Trainer entwickeln würde, würde der FC Bayern abermals patzen? Eine spannende Frage. Die Statistik liefert ihm wenig Argumente: Tuchel kassierte dem Datendienstleister Opta zufolge in seinem 43. Pflichtspiel als Bayern-Trainer nun die zehnte Niederlage - so oft hatte Vorgänger Julian Nagelsmann in dessen 84 Partien bis zum Rauswurf verloren. Besonders bemerkenswert: Von seinen sieben K.-o.-Spielen hat der Rekordmeister-Coach bisher nur eines gewonnen. Das Duell mit Drittligist Preußen Münster in der ersten Runde des DFB-Pokals. Verrückt.

Was ist los mit Harry Kane? Steckt Englands Starstürmer in der Krise? Eine Antwort auf diese Frage ist nicht möglich. Denn um darüber zu urteilen, ob es gerade nicht gut läuft bei ihm, müsste er ja den Ball am Fuß oder auf dem Kopf haben. Das aber passiert viel zu selten. Gegen Bayer Leverkusen kam der 30-Jährige auf gerade einmal 18 Ballkontakte. Davon kaum bis gar nicht in der gefährlichen Zone. Dass Kane derzeit gar nicht mehr in das Offensivspiel der Münchner eingebunden ist, kann auch Tuchel im Moment nicht lösen. Zu wenig steil und zu wenig direkt würde seine Mannschaft spielen, lautete eine Antwort. Der Mann, der in der Hinrunde auf historischen Torjägerpfaden unterwegs war, ist derzeit außer Dienst gestellt.

Im zweiten Spiel in Folge brachten die Münchner keinen Ball aufs Tor. Das hatte es zuletzt vor neun Jahren gegeben, wie die "11Freunde" herausgefunden hatten. Damals war Tuchel Trainer des BVB und Ciro Immobile sein Stürmer. An diesem Mittwochabend verwandelte der Italiener den Elfmeter zum Sieg. Verrückt.

Leroy Sané und Jamal Musiala haben ihre Form verloren: Auch in der Hinrunde war der FC Bayern oft nicht das, was man sich selbst wünscht. Eine dominante Maschine, die ihre Gegner wegwalzt. Siege wurden oft dank der individuellen Klasse von Leroy Sané, der endlich konstant auf dem Top-Niveau spielte, das er für sich selbst vorsieht, von Jamal Musiala und von Kane herausgespielt. Auch ein Mathys Tel hatte viele große Momente und ist mittlerweile völlig abgetaucht. Die Leichtigkeit, mit der die Offensiven ihre Gegner anliefen und ausdribbelten, ist verloren gegangen. Warum? Diese Frage quält Tuchel besonders. Er wünscht sich, dass seine Spieler mehr in die Duelle Mann-gegen-Mann gehen. Doch dieses wird zu oft verweigert oder ohne Überzeugung gespielt. Das macht das Spiel der Münchner langsam und ideenlos. Sprich: gut zu verteidigen.

Was ist in der Abwehr los? Gegen Leverkusen war die Münchner Abwehr zweimal im Tiefschlaf. Beim ersten Gegentreffer ließen die Verteidiger die Kugel staunend an sich vorbeirollen, ehe Leihspieler Josip Stanisic keine andere Wahl hatte, als den Ball zu versenken. Beim zweiten Gegentreffer spazierten die Münchner gleichgültig nebenher, ohne einzugreifen. Und gegen Lazio hatte Upamecano seinen schlechten Auftritt.

Eine nachhaltig stabile Formation hat der Trainer in dieser Saison nicht gefunden, was das Fundament für eine erfolgreiche Mannschaft ist. Dass sich die Suche bis in die entscheidende Phase der Saison zieht, ist ein großes Problem, was freilich auch mit Verletzungsproblemen und Abstellungen für den Afrika-Cup (Noussair Mazraoui) und Asien-Cup (Min-jae Kim) zu tun hatte. Aber eben nicht nur. Zu einer Posse wächst sich die Situation von Matthijs de Ligt aus. Der ist im internen Ranking auf Platz vier der Innenverteidiger abgestürzt, auch wenn Tuchel dementiert, dass es eine Rangliste gibt. Aber obwohl der Niederländer zuletzt stabil abgeliefert hatte, saß er - "topfit", wie er behauptet - auf der Bank. Dafür standen auf dem Platz Kim, der erschöpft vom Asien-Cup heimgekehrt war, Upamecano, der gerade erst von einer Verletzung genesen war, und Neuzugang Eric Dier, der nahezu ohne Spielzeit aus Tottenham gekommen war.

Gegen Bayer veränderte Tuchel auch sein System, wollte das des Gegners spiegeln, und wurde von Alonso böse ausgecoacht. Dass der FC Bayern in einem Topspiel reagiert, sich anpasst und nicht auf die eigenen Stärken vertraut, sorgte für Verwunderung. Wo war das viel beschworene "Mia san mia"?

Ist der Kader nicht mehr gut genug? Es ist ein Thema, das sicher Wasser auf die Mühlen des Trainers schüttet. Zwar stellt er nicht generell die Qualität seines Kaders infrage, aber mindestens eine Holding Six fehlt ihm ja. Diese Klage hat er durch die Frühphase der Saison hindurchgetrieben, ehe er von Hoeneß höflich, aber bestimmt eingefangen worden war. Auch der Rechtsverteidiger war immer ein Thema. Dass nun Sacha Boey aus Istanbul gekommen ist, und nicht etwa ein Kieran Tripper oder ein Nordi Mukiele, wirkt auch eher wie ein Plan C. Oder als Investment in die Zukunft, als Soforthilfe war der Franzose gegen Leverkusen überfordert, vielleicht auch, weil er auf einer ungewohnten Position (linker Verteidiger) aushelfen musste.

Tatsächlich wirkt es aber so, dass der Kader seit Jahren schwächer geworden ist. Vielleicht nicht unbedingt, was das Talent angeht, wohl aber, was die Unerschütterlichkeit der Spieler angeht. Ein Arjen Robben, ein Franck Ribéry, ein Robert Lewandowski, aber auch ein David Alaba und ein Jérôme Boateng scherten sich um nix. Sie wussten, was sie können. Und sie wussten, dass sie in großen Spielen auch von ihrer eigenen Heldengeschichte profitieren können.

Auch für einen anderen Umstand kann Tuchel eher weniger. Denn auch das Scouting des FC Bayern zeigte seine Schwächen. Einen Transfer wie Granit Xhaka oder Alejandro Grimaldo zu stemmen, das hätten die Münchner mit hoher Wahrscheinlichkeit geschafft. Leverkusen zahlte für beide lediglich 15 Millionen Euro. Um die Lücken zu schließen, muss es nicht immer das teuerste Werkzeug sein.

Aktuell sind zu viele Spieler verletzt oder mit sich selbst beschäftigt. Oder wie Thomas Müller, der letzte alte Anführer, nur noch als Teilzeitkraft auf dem Feld. Hinzu kommt, dass die Münchner ihre Topspieler aus der Kategorie Sané, den längst vergessenen Serge Gnabry, Kingsley Coman, Kane oder wie sie alle heißen, mit sehr viel Geld bezahlen müssen. Im Wettstreit mit Oligarchen- und Scheichklubs sind da die Möglichkeiten nicht unbegrenzt. Tuchel, der diese Welt zuletzt bei Paris St. Germain und dem FC Chelsea erlebt hat, fremdelt augenscheinlich mit der Realität in der alten Fußballwelt. Seine überlieferten Transferwünsche gehen immer gleich finanziell in die Vollen.

Quelle: ntv.de

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