Kimmich rechnet mit Kritikern ab "Wichtigstes Tor" sorgt für zauberhafte Bayern-Vergesslichkeit
18.04.2024, 05:35 Uhr
Kimmich sorgte mit seinem Tor gegen Arsenal für lange nicht mehr gesehene Euphorie in München.
(Foto: IMAGO/kolbert-press)
Ein Tor heilt alle Wunden: Joshua Kimmich sorgt mit seiner Kopfball-Wucht gegen Arsenal dafür, dass der FC Bayern für einen Moment alle Sorgen vergisst. Seltene Szenen spielen sich in München ab, Kimmichs große Befürchtung bewahrheitet sich nicht - und er mutiert plötzlich zu Goethe.
"Werd' ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön!" Nein, diese Sätze wirft nicht Joshua Kimmich der Presse jubelnd entgegen. Sie stammen von Johann Wolfgang von Goethe - und doch will Bayern Münchens Rechtsverteidiger an diesem Mittwochabend in der Allianz Arena eigentlich nichts anderes sagen. Nach seinem Tor. Seinem Wucht-Kopfball mit so viel Sturm und Drang, dass nicht nur Goethe, sondern auch Kalle Riedle, Horst Hrubesch und "Hubschrauber" Vahid Hashemian gemeinsam neidisch sind. Seinem Türöffner für das Halbfinale der Champions League.
Kimmichs 1:0 gegen den FC Arsenal wird zu einem Moment, der die Münchner alle Sorgen der vergangenen Monate vergessen lässt. Wenigstens kurz, für eine Nacht. Ein einziger magischer Augenblick führt zu Szenen, wie man sie beim Rekordmeister fast nicht mehr kennt. Erst rennt die Mannschaft mit Kimmich inbrünstig jubelnd zur Eckfahne (64.), dann, nachdem Leon Goretzka in der Nachspielzeit die letzte Ecke per Kopf klärt und anschließend theatralisch auf die Knie fällt, bricht ein kollektiver Freudentaumel aus. Auf dem Platz, auf den Rängen. Kimmich springt Eric Dier in die Arme. Thomas Tuchel herzt sein komplettes Trainer-Team euphorisch, wirft sogar einen Handkuss ins Publikum. Die Spieler tanzen ausgelassen minutenlang vor der Südkurve. Seltene Momente in einer schwierigen Saison.
Doch Fußball ist simpel. Ein Tor heilt alle Wunden. Dank Kimmichs Kopfball, den er nach der Partie als sein "wichtigstes Tor jemals" beschreibt, lebt der Traum vom Finale in der Königsklasse. Vom größten Titel ausgerechnet in der Saison, die so schlecht verläuft wie keine mehr beim FC Bayern seit 2012. In der Leverkusen in der Bundesliga davon marschierte und die Münchner im Pokal beim Drittligisten Saarbrücken scheiterten. Der Einzug ins Halbfinale wirkt deshalb wie ein Moment, der so gar nicht in die aktuelle Realität passen will. Der sich beinahe wie ein Fremdkörper anfühlt, weil der FC Bayern zuletzt nur gelitten hat und kritisiert wurde. Der heilsam durch die geschundenen Seelen und Adern der Profis fließt. Als wäre nichts gewesen.
Kimmich: "Ich will mir nicht vorstellen ..."
Heilt dieser Erfolg die Wunden dieser Spielzeit? Kimmich überlegt ein wenig bei dieser Frage in den Katakomben der Arena. "Es ist sehr wichtig, dass wir weitergekommen sind", sagt der Torschütze dann: "Ich will mir nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn wir rausgeflogen wären." Und dann wird er persönlich. "Das Tor tut sehr sehr gut", erzählt Kimmich, denn in der letzten Zeit "musste ich mir viel anhören und habe wenig Rückendeckung bekommen." Ein Seitenhieb auf die Medien und Experten sicherlich. Vielleicht auch eine Stichelei in Richtung Tuchel, der ihn von seiner geliebten Sechser-Position auf die rechte Außenverteidigerposition zog. "Ich bin sehr stolz", strahlt der Matchwinner - und verschwindet in den Mannschaftsbus.
DAZN-Experte Sami Khedira spricht nach der Partie ähnliche Worte: "Ein kurzes Wort zu Kimmich. Fußball ist am Ende fast immer gerecht. Was der diese Saison abbekommen hat - er kann keine Ecken schießen, er soll in ein anderes Land wechseln, den brauchen wir nicht, der kann nichts. Keine Ahnung, liebe Experten, aber ihr habt keine Ahnung!"
Lange kommen die Bayern gegen Arsenal nicht zu ernsthaften Torchancen. Zu defensiv lässt Tuchel seine Männer agieren. Als diese nach der Halbzeitpause mit mehr Dampf aus der Kabine kommen, dauert es nicht mehr lang bis zu dem Moment, der vielleicht eine gesamte Saison rettet. "Ich bin zwar kein Kopfball-Ungeheuer", sagt Kimmich dazu nach dem Sieg, aber er habe früher schon hier und da per Kopf getroffen.
Nach einer missglückten Flanke von Leroy Sané landet der Ball an der linken Grundlinie bei Raphael Guerreiro, der zu viel Zeit und Raum bekommt. In seine gefühlvolle Hereingabe stürmt Kimmich mit solch einer Vehemenz hinein, als wollte er auf dem Laufweg all seinen Kritikern einen Bodycheck verpassen. Anschließend steigt der 177 Zentimeter "kleine" Rechtsverteidiger so hoch, wie man es heutzutage von Cristiano Ronaldo kennt - und köpft in bester Riedle-Hrubesch-Hashemian-Manier ins linke Eck.
"Eine der stärksten Mannschaften Europas"
Alles Negative ist vergessen. Ein Sieg im wichtigsten Spiel des Jahres. Gegen die Gunners, die zwar am Wochenende verloren hatten, aber davor lange die Premier League mit Liverpool und Man City dominiert haben. Der magische Moment zeigt: Wenn sich die Bayern zusammenraufen, ist punktuell vieles möglich. Gegen Real Madrid wird es zwar noch schwieriger, aber in zwei Spielen ist das Weiterkommen keineswegs Hexenwerk.
"Diese Mannschaft hat eine unglaubliche Stärke", fasst es vor den Medienschaffenden auch Bayern-Präsident Herbert Hainer zusammen, "wenn sie die auf den Platz bringt, dann ist sie eine der stärksten Europas." Und der neue Sportdirektor Max Eberl antwortet auf die Frage, ob dieser Erfolg über die verpatzte Meisterschaft hinwegtröste: "Man kann auch das Haar in der Suppe suchen, wir freuen uns heute einfach über den Einzug ins Halbfinale."
Dafür braucht es gegen Arsenal nur einen magischen Augenblick. "Wir wollen diesen positiven Moment mitnehmen", blickt Kimmich bereits nach vorn. Live schaut er kurz mit Journalistinnen und Journalisten das Elfmeterschießen zwischen Real Madrid und Manchester City im Parallelspiel. "Beide sind sehr starke Teams", sagt er, als Real gewinnt, "keines wäre ein Freilos gewesen". Sollte sich die Geschichte wiederholen und wie 2013 Dortmund im Finale in Wembley auf den Rekordmeister warten, hätte der Torschütze kein Problem damit. "Bayern gegen BVB im Finale würde ich so nehmen", grinst er verschmitzt.
Augenblick lässt Sorgen vergessen
Ein Lächeln. Euphorie. Selbst das ist selten geworden in München. Das kollektive Aufatmen ist greifbar. Auch bei den Fans sind viele Sorgen vergessen. Vergeben ist an diesem Abend jeder Fehler, jedes Gegentor, jede Pleite. Während die Südkurve das ganze Spiel über für Stimmung sorgt, ist der Rest des Stadions zunächst verhalten. Doch mit dem Tor kommt die Wende. Noch Stunden nach dem Spiel singen die Anhängerinnen und Anhänger in den Straßen und U-Bahnen.
Solch ein - in dieser Saison seltener - Glücksmoment will ausgekostet werden. Nun muss der FC Bayern ihn weitertragen. Konservieren. Einpacken, aufwärmen, wiederverwenden. Erst im Halbfinale gegen Real, dann im Endspiel. Und die Sorgen wären nicht nur für einen Augenblick vergessen.
Quelle: ntv.de