
Mit einer unheimlichen Machtdemonstration geht das DFB-Team in den Länderspielendspurt 2024. Die 7:0-Gala in der Nations League zeigt, was die Elf von Bundestrainer Nagelsmann leisten kann. Der Erfolg gegen Bosnien-Herzegowina ist aber nicht nur atmosphärisch wichtig.
Manchmal ist es fast schon unfair, was Jamal Musiala da macht. Es ist die allerhöchste Fußballkunst und doch sieht es so verdammt einfach aus. Als könnte man das einfach auf dem nächsten Bolzplatz nachmachen, als könnte man das wirklich trainieren. Kurz nach der Halbzeit, in der 51. Minute, lässt der Meisterdribbler das ganze Freiburger Stadion kollektiv raunen. Es sind nur ein paar wenige Bewegungen. Mitten in der eigenen Hälfte behauptet sich der Nationalspieler gegen gleich drei Gegenspieler von Bosnien-Herzegowina und lässt sie allesamt aussteigen.
Als wären diese ein, zwei Sekunden nicht besonders genug, ist es die Art und Weise: Mit einer Leichtigkeit, fast schon spielerisch, nicht arrogant, lässt er den Ball von einem Fuß zum anderen wandern. Und obwohl die gegnerischen Verteidiger mit allen Mitteln dagegen ankämpfen, wirkt es, als hätte Musialas Körper gar keinen Schwerpunkt. Als gäbe es keine Schwerkraft, als seien die Gesetze der Physik außer Kraft. Fast schon wie ein Hütchenspieler beim Fußball.
Mittlerweile hat man sich schon daran gewöhnt, dass Musiala viele solcher kleinen Situationen in seinem Spiel hat. Nur, und das ist das Problem für seine Gegner, dass er in dieser Saison abermals besser geworden ist. In der Vergangenheit verhedderte er sich manchmal in seinen eigenen Dribblings, doch das ist Geschichte. Spätestens bei der 7:0 (3:0)-Gala über Bosnien-Herzegowina zeigt er, dass er sein Repertoire erweitert hat: um Kopfballtore (wie beim frühen 1:0, wenn man ihm zu viel Platz lässt), um gefährliche Fernschüsse und sogar um Abgezocktheit. Kurz vor seiner Auswechslung schießt der 21-Jährige in Bedrängung einen gegnerischen Spieler mit der Hacke an, um einen Abstoß herauszuholen.
Nicht nur Musiala
Und, das ist wieder ein Problem für die Gegner des DFB-Teams: Musiala spielt ja nicht alleine in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. An diesem kalten Freiburger Novemberabend zeigt die Elf von Bundestrainer Julian Nagelsmann auf unheimliche Art und Weise, wozu sie imstande ist. Vor der Partie geisterte ein Bild durch die sozialen Medien, das die bosnische Mannschaft im Europa-Park auf einer Achterbahn zeigte. Eigentlich sollte das Teambuilding sein, dabei hätte die Elf von Nationaltrainer Sergej Barbarez vielleicht ein Besuch in der Geisterbahn besser vorbereitet. So beängstigend effizient und schonungslos spielt dieses DFB-Team mit seinem Gegner, wie ein gefräßiges Monster. Barbarez lobte nach Abpfiff "eine der besten Mannschaften der Welt".
Die Nagelsmänner zeigen beim letzten heimischen Auftritt des Länderspieljahres 2024 "ein buntes Potpourri an Toren", wie es der Bundestrainer im Nachgang beschrieb. Am Ende sind es sieben Stück, kaum eines gleicht dem anderen. "Wir haben Tore aus Standards, Ballbesitzphasen und Umschaltmomenten gemacht", hob Nagelsmann auf der Pressekonferenz lobend hervor. Dabei wurde sein Plan schon zu Beginn klar: Die DFB-Elf wollte die Mannschaft von Bosnien-Herzegowina möglichst am eigenen Sechzehner einschnüren, um dann mit Flanken torgefährlich zu werden.
Das Team von Nationalcoach Barbarez ergibt sich aber nicht seinem Schicksal, versucht sogar mitzuspielen. Zumindest in der ersten Hälfte animiert die einstige HSV-Ikone seine Elf immer wieder an der Seitenlinie, selbst mutig aufzutreten. Doch zu oft unterlaufen den Gästen einfache Fehler. Der Plan hat zudem einen weiteren Makel: Dass das DFB-Team über eine der besten Offensivreihen verfügt, die es derzeit im Fußball gibt. Denn da steht nicht nur Musiala auf dem Platz, einer der prägenden Spieler des FC Bayern, sondern neben ihm auch Florian Wirtz, deutscher Doublesieger mit Leverkusen, und der englische Vizemeister Kai Havertz vom FC Arsenal.
Dabei haben sie für einen Abend auch ihre Schwächen abgeschüttelt: Havertz kreiert diesmal nicht nur Chancen, sondern verwandelt selbst eine. Die Kritik an seiner Abschlussschwäche wurde er seit der EM nicht so richtig los. Musialas kongenialer Partner Wirtz zeigt derweil erneut, dass er über ein ganz besonderes Gespür verfügt: nämlich auf engstem Raum die richtige Entscheidung zu treffen. Auch er zeigt solche besonderen kleinen Momente in seinem Spiel wie Musiala. Und mehr: Diesmal trifft er sogar per direktem Freistoß. Auch hier ist der gegnerische Torwart nur Statist, die Flugkurve des Balles ist unberechenbar. Das Spielgerät ändert mitten in der Luft die Richtung.
Leider, aus Sicht der Konkurrenz, ist hier noch nicht Schluss: Hinter den Offensivkünstlern wartet die DFB-Abwehrreihe auf die Angriffsbemühungen von Bosnien-Herzegowina. Im zentralen Mittelfeld ist es vor allem Abräumer Robert Andrich, der sich erneut unverzichtbar zeigt. Die wenigen Bälle, die das aggressive Pressing nicht sofort abfängt, sammelt er auf und spielt sie direkt wieder nach vorn, meistens unscheinbar, häufig aber sehr effektiv. Als letzte Absicherung warten dann noch Abwehrboss Antonio Rüdiger und Jonathan Tah.
Eines der besten Spiele jemals?
Und so fällt Tor um Tor, auch als Wirtz und Musiala schon lange nicht mehr auf dem Rasen stehen. Das DFB-Team lässt gar nicht den Eindruck aufkommen, irgendwie herunterschalten zu wollen. Keine Pausen, kein Durchschnaufen. 5:0, 6:0, 7:0: Die Torhymne "Major Tom" in Dauerschleife. Dass der Sieg am Ende nicht noch höher ausfällt, liegt auch an einem kuriosen Moment. Der eingewechselte Serge Gnabry verhindert versehentlich das 8:0, weil er unglücklich in die Schusslinie von Pascal Groß rutscht. Auf der Tribüne hat man derweil nicht das Gefühl, dass das gefräßige DFB-Monster irgendein Ende kennen könnte - wie die Raupe Nimmersatt aus dem bekannten Kinderbuch. Erst mit dem Schlusspfiff des Schiedsrichters Vassilis Fotias kann man sich sicher sein, dass nicht noch ein Tor fällt und "Major Tom" diesmal wirklich zum letzten Mal abhebt.
Es ist das, worauf Nagelsmann gehofft hat. Die Stimmung rund um das DFB-Team hatte sich zuletzt bei Medien und Fans stark aufgehellt, das sollte ins neue Jahr mitgenommen werden. Der DFB half dabei kräftig mit: Erstmals seit 18 Jahren fand wieder ein Spiel in Freiburg statt, die Tickets für das zugegebenermaßen nicht allzu riesige Europa-Park-Stadion (28.143 Plätze beim Länderspiel) waren innerhalb von 45 Minuten vergriffen. Wie schon bei der Heim-EM parkte der Kult-Fanbus davor, es wurden wieder Deutschlandfahnen verteilt.
Wie sehr sich die Fußball-Welt innerhalb von zwölf Monaten doch ändern kann: Im November 2023 galt das Projekt Nagelsmann als Bundestrainer als vom Scheitern bedroht. Damals gab es die 2:3-Niederlage gegen die Türkei, dann die 0:2-Pleite in Wien - ausgerechnet gegen die Österreicher. Die beiden Auftritte waren fußballerische Offenbarungseide. Im bitterkalten Berliner Olympiastadion experimentierte Bundestrainer Nagelsmann mit Mittelstürmer Havertz auf der Außenverteidigerposition, in Wien flog Leroy Sané mit einer Roten Karte vom Platz und verpasste deshalb die EM-Vorbereitung fast komplett. Die DFB-Elf machte es denen, die es mit ihr halten, wirklich nicht leicht. Doch dann folgte der Kaderumbruch im März und die Heim-EM.
Und nun der 7:0-Erfolg zum (vorläufigen) Jahresabschluss. Dieser war nicht nur atmosphärisch wichtig: Mit dem klaren Heimsieg erreicht das Team von Bundestrainer Nagelsmann das Viertelfinale der Nations League als Tabellenerster der Gruppe A3 - und das ausgerechnet vor den Augen von Ex-Bundestrainer Joachim Löw, der seinerzeit kein großer Fan des Wettbewerbs war. Erstmals besteht jetzt die Chance, dass auch das DFB-Team der Herren am Final-Four-Turnier teilnimmt, das im kommenden Sommer stattfindet. Zuvor gibt es jedoch ein Viertelfinale gegen einen Gruppenzweiten, mit Heimrecht im Rückspiel, der Gegner ist noch völlig offen.
Also alles super, oder? Wer nach Makeln sucht, der muss tatsächlich ganz genau hinschauen. Rekordnationalspieler Lothar Matthäus sprach nach Abpfiff bei RTL von einem der besten Länderspiele, das er jemals gesehen hat. Und das sind schließlich einige. Auch wenn die beteiligten Protagonisten zur üblichen Zurückhaltung mahnen und auch wenn es gegen keinen Weltmeister ging, sucht man vergeblich nach möglichen Schwächen - selbst bei den Klassikern. Die Chancenverwertung? Hat gestimmt. Unachtsamkeiten? Keine großen. Einzig bei der Dramaturgie gibt es Nachholbedarf: Das frühe 1:0 schon nach rund anderthalb Minuten und Wirtz' Freistoß-Tor unmittelbar nach der Pause fressen jede aufkommende Spannung auf, sodass sich schon vor Spielende die Ränge langsam leeren. Aber irgendwas gibt es immer zu meckern, spätestens dann nach dem Spiel am Dienstag in Ungarn (20.45 Uhr/ZDF und im Liveticker bei ntv.de).
Quelle: ntv.de