"Collinas Erben" als Brigadehelfer BVB nörgelt, Schiedsrichter-Ultras sind da
05.10.2015, 10:58 Uhr

"Weil Schiedsrichter für uns die unbesungenen Helden sind": Brigade Hartmut Strampe.
(Foto: Brigade Hartmut Strampe)
In München etabliert sich der Schiedsrichter in der Spitzengruppe, da können die Dortmunder bei der Klatsche gegen den FC Bayern ruhig ein wenig meckern. Und es gibt ein Novum in der Bundesliga: die ersten organisierten Fans der Unparteiischen.
Das Spiel zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund ist derzeit zweifellos das Nonplusultra im deutschen Fußball - auch für die Schiedsrichter. Jeder Referee träumt davon, es einmal pfeifen zu dürfen, doch nur wenige bekommen die Gelegenheit dazu. In den vergangenen fünf Jahren teilten sich vor allem drei Unparteiische die Begegnungen zwischen dem deutschen Rekordmeister und seinem ärgsten Konkurrenten in der Bundesliga und dem DFB-Pokal: Peter Gagelmann kam gleich fünfmal zum Einsatz, Knut Kircher und Manuel Gräfe wurden je dreimal berufen. Am Sonntagabend aber schickte der DFB Marco Fritz in die Münchner Arena - ein Zeichen dafür, dass die Aktien des 38-jährigen Bankkaufmanns bei der Schiedsrichter-Kommission des Verbandes gestiegen sind.
Fritz leitet seit 2009 Erstligaspiele, seit drei Jahren ist er zudem Fifa-Referee. Im Laufe der Jahre hat er deutlich an Selbstsicherheit und Souveränität gewonnen, weshalb ihm auch das Ballyhoo im Vorfeld des Spitzenspiels nichts ausgemacht haben dürfte. Am Donnerstag hatte Dortmunds Sportdirektor Michael Zorc in einem Interview des "Kicker" geklagt: "Wir wurden in den vergangenen Wochen durch Schiedsrichterentscheidungen massiv benachteiligt." Doch Fritz ging unbelastet ins Spiel.
"Collinas Erben" - das ist Deutschlands erster Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei. "Collinas Erben" schreiben jeden Montag auf ntv.de über die Schiedsrichterleistungen des Bundesligaspieltags. Unser Autor Alex Feuerherdt ist seit 1985 Schiedsrichter und leitete Spiele bis zur Oberliga. Er ist verantwortlich für die Aus- und Fortbildung in Köln, Schiedsrichterbeobachter im Bereich des DFB und arbeitet als Lektor und freier Publizist.
Und nach nur drei Minuten hatte er gleich die erste heikle Szene zu beurteilen: Nach einem Steilpass von Mats Hummels kam Dortmunds flinker Stürmer Pierre-Emerick Aubameyang im Laufduell mit David Alaba etwa 23 Meter vor dem Tor der Bayern zu Fall. Außer Torwart Manuel Neuer hatte er dabei keinen Münchner mehr vor sich. Ein Foul? Gar eine "Notbremse"? Fritz entschied auf Freistoß für den BVB, Alaba bekam zudem die Gelbe Karte. Und damit lag der Schiedsrichter richtig. Der Münchner hatte den Dortmunder leicht, aber folgenreich am Fuß getroffen, damit allerdings keine klare Torchance verhindert. Denn zum einen hätte Aubameyang den schwierigen Ball erst unter Kontrolle bringen müssen, zum anderen befand er sich in einer etwas seitlichen Position.
Korrekt war auch die Strafstoßentscheidung für den FC Bayern in der 34. Minuten nach einem ungeschickten Einsteigen von Henrikh Mkhitaryan gegen Thiago, wie man überhaupt sagen muss, dass Marco Fritz einen vorzüglichen Auftritt hinlegte. Seine Zweikampfbeurteilung war wohltuend großzügig, die Körpersprache klar, und seine kommunikative Art kam bei den Spielern gut an. Auf die Mätzchen der Bayern, die zu Beginn der Partie mehrmals beim geringsten Kontakt fielen, ging er gar nicht erst ein, den Nörgeleien der Dortmunder im späteren Verlauf des Spiels begegnete er so gelassen wie bestimmt. Marco Fritz ist im Kreis der Bundesliga-Spitzenschiedsrichter angekommen, so viel lässt sich nach dieser Begegnung urteilen.
Gelächter bei der Seitenwahl
Sein Kollege Peter Sippel sorgte derweil im Spiel zwischen Hannover 96 und dem SV Werder Bremen zwischenzeitlich für Verwirrung. Denn als dem Hannoveraner Leon Andreasen in der 27. Minute ein Schuss von Fin Bartels aus kurzer Distanz an den eng angelegten Arm flog, ließ der Referee zunächst völlig zu Recht weiterspielen - um dann plötzlich doch noch von seiner Pfeife Gebrauch zu machen. Alles rechnete nun mit einem Strafstoß, sowohl die Hannoveraner als auch die Bremer bedrängten den Unparteiischen, der seinerseits damit beschäftigt war, über das Headset mit seinem Assistenten zu kommunizieren, der ihm zuvor offenbar etwas zu der Strafraumszene mitgeteilt hatte. Nach länglichen Diskussionen auf dem Platz setzte Sippel die Partie schließlich richtigerweise mit einem Schiedsrichter-Ball fort – wie es bei einem irrtümlichen Pfiff des Unparteiischen vorgesehen ist. Es war einer jener – wohlgemerkt seltenen – Fälle, in denen das Entscheidungsmanagement ohne die Sprechfunkverbindung nach draußen vermutlich besser ausgefallen wäre.
Zu einer kuriosen Szene kam es unterdessen schon vor dem Anpfiff der Begegnung zwischen der TSG Hoffenheim und dem VfB Stuttgart. Bei der Seitenwahl hatte sich Martin Harnik, der Kapitän der Gäste, für die gelbe Seite der Wählmarke von Schiedsrichter Deniz Aytekin entschieden. Er gewann das Spielchen auch, doch Aytekin hatte sich die Farbe Gelb irrtümlich für die Hausherren gemerkt und sprach Hoffenheims Pirmin Schwegler die Wahl der Spielrichtung zu. Harnik machte den Referee auf seinen Lapsus aufmerksam, Aytekin korrigierte sich - und die Szene endete damit, dass die Schiedsrichter mit den Kapitänen lachten. Wer die Seitenwahl gewonnen hat, ist übrigens auch daran zu erkennen, wer den Anstoß zum Spielbeginn ausführt. Dieses Team hat beim Wurf der Wählmarke den Kürzeren gezogen - denn der Gewinner bestimmt stets, auf welches Tor seine Mannschaft zunächst spielt, der Verlierer darf dafür das Match eröffnen. So war es jedoch nicht immer: Bis vor einigen Jahren durfte der Seitenwahlsieger noch wählen, ob er die Spielrichtung festlegt oder den Anstoß haben möchte. Paul Breitner hatte das in seinem 1980 erschienenen Buch "Ich will kein Vorbild sein" auch ausdrücklich gelobt. Der damalige Spielführer des FC Bayern schrieb, er wähle stets den Anstoß, weil er gleich den Ball haben wolle. Diese Option kassierten die Regelhüter vom International Football Association Board jedoch.
Ein Novum: "Schiri-Ultras"
Für eine Seitenwahl der besonderen Art hat sich derweil die "Brigade Hartmut Strampe" entschieden. Bei dieser Gruppierung, die sich nach dem früheren Bundesligaschiedsrichter (170 Erstligaeinsätze zwischen 1991 und 2003) aus Handorf im Landkreis Lüneburg benannt hat, handelt es sich um die ersten "Schiri-Ultras" hierzulande. Erstmals aufgetreten sind sie Mitte September beim Bundesligaspiel zwischen Hertha BSC und dem VfB Stuttgart. Mit einem großen Transparent, auf dem der Name der Gruppe und das Konterfei ihres Namensgebers zu sehen war, sowie rot-gelben Linienrichterfahnen und eigenen Schals zogen etwa 20 von ihnen ins Olympiastadion und feierten dort den Unparteiischen Tobias Stieler unter anderem mit langgezogenen "Stiiieeeler"-Rufen.
Dass da jemand in organisierter Form für die Unparteiischen Partei ergreift, ist ungewöhnlich. Und die Brigade hat sehr viel Charme und Witz, dabei greift sie den Duktus der Ultras auf und modifiziert ihn (selbst)ironisch für ihre eigenen Zwecke. "Unsere Qualität: Neutralität", lautet ihre Parole, "Sieg oder Spielbericht" ihr Motto. Auf der Facebookseite der Gruppe finden sich zahlreiche Videos mit Gesängen und Sprechchören. "Wir sind für die Schiris da", hört man da beispielsweise, "Freistoßspray - Scheißidee", oder, in feinsinniger Anspielung auf die Initiativen zur Unterstützung von Flüchtlingen: "Say it loud, say it clear, Referees are welcome here!"
Inzwischen sind auch die Medien auf die "Brigade Hartmut Strampe" aufmerksam geworden, ihre Mitglieder wurden mehrmals zum Interview gebeten. Bei "Zeit Online" etwa antwortete der Brigadist Alex Brandt auf die Frage, warum sein Zusammenschluss für die Spielleiter sich gegründet habe: "Erst mal, weil es noch keinen gab. Und weil Schiedsrichter für uns die unbesungenen Helden sind." Und warum Hartmut Strampe als Ikone? Ganz einfach: "Weil das ein ganz wunderbarer Schiedsrichter aus den neunziger und nuller Jahren war. Er hat 2001 das legendäre Spiel zwischen Dortmund und Bayern gepfiffen, in dem er zehn Bayern-Spielern eine Gelbe Karte gab und zwei vom Platz schickte. Hartmut Strampe hat diesen fantastischen Schiri-Look: Schnäuzer, Bürstenhaarschnitt, die ganze Parkraumüberwacher-Attitüde. So hat er den bei der Namensfindung härtesten Konkurrenten Eugen Strigel ausgestochen."
Wie aber reagieren die klassischen Fans darauf? Ein Stuttgarter Anhänger klaute einem Mitglied der Brigade nach dem Spiel in Berlin den Schal, ansonsten herrschte Brandt zufolge beim ersten öffentlichen Auftritt überwiegend Verwunderung vor: "Wir kamen uns ein bisschen vor wie ein Trupp Playboymodels, der sich zum Fußball verirrt hat. Weil wir nur angestarrt wurden." Immerhin: "Ein paar fanden‘s lustig." Die Gruppierung ist übrigens nicht nur in der Bundesliga unterwegs, sondern auch in unteren Klassen. Zuletzt besuchte sie in Berlin das Oberligaspiel zwischen Lichtenberg 47 und Anker Wismar und unterstützte dort den Schiedsrichter. "Richard Hempel, du bist der beste Mann", erklang es dort. Der Besungene wird vermutlich so erstaunt wie erfreut gewesen sein.
Quelle: ntv.de