"Collinas Erben" sind zerrissen Hummels mit Köpfchen, Huntelaar abgezockt
04.05.2015, 11:05 Uhr

Das Tor zählt: Mats Hummels jubelt in Sinsheim.
(Foto: imago/Hartenfelser)
In Hoffenheim fragten sich viele: Tor oder Abseits? In Schalke heißt es: absichtlicher Rückpass oder unkontrollierte Klärung? In Mainz und Darmstadt steht zur Debatte: Rettung in letzter Sekunde oder Foul? Manchmal entscheiden Nuancen.
Pierre-Emerick Aubameyang stand an diesem Samstag um kurz nach vier im Abseits. Daran besteht kein Zweifel. Auch dass der Dortmunder Angreifer sich in dieser Szene der Partie bei in Sinsheim ausnehmend passiv verhielt, ist keine Frage. Es geht vielmehr darum, ob er an diesem 31. Spieltag der Fußball-Bundesliga dem Hoffenheimer Torhüter Oliver Baumann die Sicht versperrte, während Aubameyangs Kollege Mats Hummels nach 35 Minuten den Ball zum 1:1 ins Tor köpfte. Viele sagen: ja! Hoffenheims Trainer Markus Gisdol zum Beispiel. "Das war Abseits! Ganz eindeutig Abseits." Aber ganz so einfach ist die Sache nicht.
Seit die Auslegung der Abseitsregel vor knapp zwei Jahren einer weiteren Teilreform unterzogen wurde, die ganz bewusst erneut zugunsten der Offensive ausfiel, haben die Angreifer noch mehr Freiheiten erhalten, während es für die Verteidiger und Torhüter wieder ein Stückchen schwerer geworden ist. Unverändert geblieben ist jedoch, dass ein im Abseits stehender Spieler einem Gegner nicht die Sicht versperren darf, um ihn auf diese Weise daran zu hindern, den Ball zu spielen.
"Collinas Erben" - das ist Deutschlands erster Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei. "Collinas Erben" schreiben jeden Montag auf ntv.de über die Schiedsrichterleistungen des Bundesligaspieltags. Unser Autor Alex Feuerherdt ist seit 1985 Schiedsrichter und leitete Spiele bis zur Oberliga. Er ist verantwortlich für die Aus- und Fortbildung in Köln, Schiedsrichterbeobachter im Bereich des DFB und arbeitet als Lektor und freier Publizist.
Tut er es dennoch, soll der Schiedsrichter auf Abseits entscheiden und dem verteidigenden Team einen indirekten Freistoß zusprechen. Was einfach klingt, ist in der Praxis oft ein Problem. Die Schwierigkeit für den Unparteiischen besteht in der Einschätzung, wann überhaupt eine solche Sichtsperre vorliegt. Um darüber zweifelsfrei befinden zu können, müsste der Referee die Situation gewissermaßen mit den Augen des möglicherweise gestörten Spielers - meistens ist das der Torwart - sehen. Oder zumindest so positioniert sein, dass er den Blickwinkel des in seiner Sicht eventuell eingeschränkten Kickers genau beurteilen kann. Da das kaum je möglich ist, ist er auf Indizien angewiesen, etwa die Reaktion des betreffenden Spielers. Nicht zuletzt sie muss er beobachten und in seine Entscheidungsfindung einbeziehen.

Szene des Anstoßes: Hier lässt sich erahnen, dass Pierre-Emerick Aubameyang zwischen seinem Kollegen Mats Hummels und dem Hoffenheimer Torwart Oliver Baumann stand.
(Foto: imago/Jan Huebner)
Eben das hat Schiedsrichter Jochen Drees in Sinsheim getan, als er mit seinem Assistenten zu beurteilen hatte, ob der Ausgleich für Borussia Dortmund regulär war oder nicht. Als Hummels den Ball aus fünf Metern ins Tor köpfte, stand Aubameyang klar in der Flugbahn des Balles. Aber hatte er tatsächlich die Sicht des Hoffenheimer Torhüters Baumann versperrt, und zwar eindeutig, wie es die Regeln für einen Abseitspfiff verlangen? Nein, fand Drees - denn Baumann schien recht unbeeindruckt und hechtete in die Ecke, hatte gegen den platzierten Kopfball jedoch keine Chance. Eine nachvollziehbare Entscheidung des Unparteiischen, zumal sich Aubameyang in seiner Abseitsposition vollkommen passiv verhalten hatte. Der Treffer wäre wohl nur annulliert worden, wenn der Schlussmann der Gastgeber entweder gar nicht oder mit gehöriger Verzögerung reagiert hätte. Denn dann wäre es offensichtlich gewesen, dass ihm der Blick verstellt war. So aber musste Jochen Drees aufgrund seiner Wahrnehmung davon ausgehen, dass Baumann eine gute Sicht auf das Geschehen hatte.
Ausgerechnet Huntelaar
Auch Drees‘ Kollege Felix Zwayer hatte beim Spiel des FC Schalke 04 gegen den VfB Stuttgart eine knifflige Situation zu beurteilen: Bei einem erfolgversprechenden Angriff der Schwaben in der 76. Minute hatte sich Christian Gentner den Ball rund 20 Meter vor dem Tor gerade zum Abschluss zurechtgelegt, als hinter ihm plötzlich der Schalker Stürmer Klaas-Jan Huntelaar auftauchte und die Kugel mit einem beherzten Schuss zu seinem eigenen Torwart spielte, der sie mit den Händen unter sich begrub. Die Stuttgarter sahen in der Aktion des Niederländers ein absichtliches Zuspiel mit dem Fuß und hatten dafür gute Argumente, denn der Rückpass wirkte tatsächlich gewollt. Der Schiedsrichter ließ jedoch weiterspielen – und statt eines indirekten Freistoßes für den VfB gab es postwendend den Ausgleich. Ausgerechnet durch Huntelaar.
In Augsburg kam es unterdessen zu einem Kuriosum, als Rahman Baba fünf Minuten vor Schluss nach einem ganz normalen Zweikampf gegen den Kölner Kazuki Nagasawa an der Außenlinie den Ball urplötzlich während des laufenden Spiels in die Hand nahm. Ein konkreter Grund dafür ließ sich nicht ausmachen - weder lag ein Foul vor, noch gab es einen erkennbaren Einfluss von außen. Auch sah es nicht so aus, als habe der Ball an Luft verloren. Schiedsrichter Marco Fritz gab dennoch keinen direkten Freistoß für Köln wegen Handspiels, sondern einen Schiedsrichter-Ball. Eine etwas merkwürdige Entscheidung - allerdings eine der wenigen in einer Partie, die der Referee ansonsten sicher im Griff hatte.
Rettung oder Notbremse?
Derweil stellte Referee Peter Sippel beim Spiel zwischen Mainz 05 und dem Hamburger SV den Mainzer Daniel Brosinski eine Minute vor dem Ende der regulären Spielzeit mit der Roten Karte vom Platz. In dieser Szene zeigte sich, wie schmal der Grat zwischen einer gelungenen Rettungsaktion im letzten Moment und einer fatalen "Notbremse" sein kann. Brosinski hatte seinen geschickt freigespielten Gegenspieler Artjoms Rudnevs im Kampf um den Ball kurz vor dem Strafraum leicht gerempelt. Rudnevs ging zu Boden – und der Schiedsrichter hatte den undankbaren Job, sich in Sekundenbruchteilen zwischen den Extremen "kein Foul, weiterspielen" und "Verhinderung einer klaren Torchance" entscheiden zu müssen. Argumente gab es für beide Sichtweisen, vielleicht ein paar mehr dafür, dass der Einsatz regelkonform war.
Über einen komplizierten Grenzfall hatte auch Wolfgang Stark im Spitzenspiel der Zweiten Liga zwischen Darmstadt 98 und dem 1. FC Kaiserslautern zu befinden, und das bereits nach 17 Minuten. Da nämlich eilte Kaiserslauterns Torwart Marius Müller aus seinem Kasten und grätschte an der Strafraumgrenze mit großem Einsatz erst den Ball und dann den Darmstädter Marcel Heller weg. Stark entschied zunächst, die Partie laufen zu lassen, schwenkte auf ein Zeichen seines international sehr erfahrenen Assistenten Mike Pickel jedoch um und zeigte auf den Elfmeterpunkt. Müller sah zudem die Gelbe Karte. Es gibt Gründe dafür, das Spielen des Balles in den Mittelpunkt zu stellen und das Einsteigen des Keepers als insgesamt tolerierbare Aktion zu betrachten. Aber es gibt vermutlich noch bessere Gründe dafür, den heftigen, hochriskanten Einsatz des Torwarts als übertrieben einzuschätzen und in ihm ein strafwürdiges Beinstellen zu sehen, bei dem per Zufall auch der Ball getroffen wurde. Letztlich hat der Schiedsrichter in solchen Situationen ein Problem: Er muss im Graubereich eine Schwarz-Weiß-Entscheidung treffen. Und das lässt immer einen Unzufriedenen zurück.
Quelle: ntv.de