"Collinas Erben" suchen den Vorteil Vollands Glück, Lex' Pech, Collinas Rätsel
02.05.2016, 11:17 Uhr

Kevin Volland hatte Glück. Dafür gibt's einen Daumen.
(Foto: imago/Avanti)
In der Partie zwischen der TSG Hoffenheim und Ingolstadt ist der Schiedsrichter mit zwei komplizierten Fällen konfrontiert - und hat einmal Pech. Wer das Rückspiel der Bayern gegen Atlético Madrid pfeift, ist derweil eine Überraschung.
Werden beim Fußball die Regeln übertreten, beispielsweise durch ein Foul oder ein absichtliches Handspiel, dann unterbricht der Unparteiische die Partie und gibt einen Freistoß - oder, sofern sich das Vergehen im Strafraum ereignet hat, einen Strafstoß - gegen die Mannschaft, die sich den Verstoß zuschulden kommen lassen hat. So klar, so einfach und so grundsätzlich ist es im Regelwerk festgelegt. Es gibt allerdings eine Ausnahme, und die findet sich in der Regel 5 (der Schiedsrichter). Dort heißt es nämlich: "Der Schiedsrichter hat von einer Spielunterbrechung abzusehen, wenn dies von Vorteil für dasjenige Team ist, gegen das sich das Vergehen richtete."
Konkret bedeutet das: Bleibt eine Mannschaft trotz eines Foul- oder Handspiels des Gegners in Ballbesitz und ergibt sich für sie eine Angriffsmöglichkeit, die aussichtsreicher zu sein verspricht als ein Freistoß, dann soll der Referee die Begegnung laufen lassen, also auf Vorteil entscheiden, wie es im Fußballdeutsch heißt. Ob es sinnvoller ist, nach einem Verstoß das Spiel zu unterbrechen oder die Vorteilsbestimmung anzuwenden, hat alleine der Unparteiische zu beurteilen. Die Regeln nennen einige Aspekte, die er berücksichtigen soll.
"Collinas Erben" - das ist Deutschlands erster Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei. "Collinas Erben" schreiben jeden Montag auf ntv.de über die Schiedsrichterleistungen des Bundesligaspieltags. Unser Autor Alex Feuerherdt ist seit 1985 Schiedsrichter und leitete Spiele bis zur Oberliga. Er ist verantwortlich für die Aus- und Fortbildung in Köln, Schiedsrichterbeobachter im Bereich des DFB und arbeitet als Lektor und freier Publizist.
Wichtig ist der Ort des Vergehens ("je näher beim gegnerischen Tor, desto größer der Vorteil"), aber auch die "Erfolgsaussicht eines schnellen, gefährlichen Angriffs". Da das naturgemäß nicht immer sofort zu erkennen ist, bleiben dem Unparteiischen nach dem ursprünglichen Vergehen einige Sekunden, um zu entscheiden, ob sich eine Vorteilssituation ergibt. Ist das nach seinem Dafürhalten der Fall, zeigt er dies mit seinen ausgestreckten Armen an und lässt weiterspielen. Tritt jedoch innerhalb dieser Zeitspanne kein Vorteil ein, unterbricht er das Spiel doch noch und lässt es anschließend mit der fälligen Spielfortsetzung wieder aufnehmen. Nur im Ausnahmefall auf Vorteil erkannt werden soll nach Regelübertretungen, die eine Rote Karte nach sich ziehen, sowie nach Vergehen einer Mannschaft im eigenen Strafraum. In beiden Fällen ist die Anwendung der Vorteilsbestimmung nur dann sinnvoll, wenn eine glasklare Torchance für den Gegner gegeben ist. Solche Ausnahmesituationen sind selten, in Sinsheim kam es an diesem 32. Spieltag der Bundesliga bei der Partie der TSG Hoffenheim gegen den FC Ingolstadt jedoch binnen weniger Minuten gleich zu zwei Fällen, in denen sich die Frage stellte, ob sie gegeben waren.
Warum der Schiedsrichter auch Glück braucht
Zunächst drangen die Hoffenheimer in der 52. Minute in den Strafraum der Gäste ein, den Torschuss von Andrej Kramaric wehrte Keeper Örjan Nyland zur Seite ab. Dort gingen der Ingolstädter Robert Bauer sowie Kevin Volland zum Ball, wobei der TSG-Stürmer einen Tick schneller war - und von Bauer zu Fall gebracht wurde. Da die Kugel aber wieder zu Kramaric kam, der am Fünfmeterraum lauerte, pfiff Schiedsrichter Bastian Dankert nicht sofort - schließlich hätte es sein können, dass sich dem Kroaten aus dieser kurzen Distanz eine herausragende Einschussmöglichkeit bietet. Der Referee wartete daher ab, ob sich eine Vorteilssituation ergibt. Kramaric war jedoch in Bedrängnis und konnte den Ball deshalb nicht unter Kontrolle bringen - es trat also kein Vorteil ein. Deshalb pfiff Dankert schließlich doch noch und sprach den Hausherren einen Strafstoß zu. Nyland parierte den Schuss von Kramaric allerdings.
Nur zwei Minuten später ereignete sich auf der anderen Seite - so schien es zumindest - ebenfalls eine Strafraumsituation, in der es um das Thema Vorteil ging: In einem kniffligen Zweikampf kam der Hoffenheimer Verteidiger Ermin Bicakcic gegen Stefan Lex einen Moment zu spät und foulte ihn, doch der Ball gelangte zum Ingolstädter Moritz Hartmann, der am linken Eck des Torraums völlig frei vor dem Hoffenheimer Torhüter Oliver Baumann stand und ungehindert abziehen konnte. Mit einem überragenden Reflex lenkte der Keeper der Gastgeber die Kugel jedoch ins Toraus. Während die Gäste nun vehement einen Elfmeter reklamierten, gab Referee Dankert einen Eckstoß. Ob der Unparteiische das Foulspiel von Bicakcic an Lex überhaupt als solches erkannt hatte und danach auf Vorteil entschied, lässt sich nicht zweifelsfrei sagen - eine Vorteilsanzeige gab es jedenfalls nicht, allerdings war dazu auch fast gar keine Zeit, weil Hartmann sofort aufs Tor geschossen hatte. Doch einmal angenommen, hier wäre die Vorteilsbestimmung zur Anwendung gekommen: Wäre das angemessen gewesen, weil eine hundertprozentige Torchance vorlag? Oder hätte es einen Elfmeter geben müssen? Und hätte dieser Strafstoß auch noch nach Baumanns Parade gegen Hartmann verhängt werden können? Fest steht, dass in dem Moment, in dem der Vorteil eintritt - beispielsweise, indem ein Spieler den Ball kontrolliert verarbeitet oder ungestört aufs gegnerische Tor schießt -, das ursprüngliche Vergehen nicht mehr geahndet werden kann.
Moritz Hartmann kam - anders als Kramaric zwei Minuten zuvor, und darin liegt der entscheidende Unterschied - unbedrängt an den Ball und konnte problemlos abschließen. In diesem Moment war klar, dass es keinen Strafstoß für Ingolstadt mehr geben durfte. Man kann allerdings trefflich darüber streiten, ob eine Schusschance aus fünf Metern, aber spitzem Winkel oder zentral aus elf Metern die bessere Tormöglichkeit ist. Was eine solche Situation für den Schiedsrichter zusätzlich kompliziert macht, ist die Unvorhersehbarkeit ihres Ausgangs: Entscheidet der Referee auf Vorteil und es fällt ein Tor, wird man ihm zu seiner Weitsicht gratulieren. Schießt der Stürmer aber daneben, fordert dessen Mannschaft den Strafstoß.
Pfeift der Unparteiische umgekehrt einen Elfmeter, während der freistehende Angreifer den Ball gerade erläuft und ins Tor bugsiert, wird entrüstet der Vorteil eingeklagt. Der Referee steckt also in einem Dilemma und benötigt etwas Glück bei seiner Entscheidung. Bastian Dankert hatte dieses Glück schlichtweg nicht. Seinem Kollegen Cüneyt Çakır dagegen ergeht es derzeit gänzlich anders. Denn der türkische Schiedsrichter, der schon das letztjährige Finale in der Champions League zwischen dem FC Barcelona und Juventus Turin geleitet hatte, ist von der Uefa für das Halbfinal-Rückspiel des FC Bayern gegen Atlético Madrid am Dienstag (ab 20.45 Uhr im Liveticker bei n-tv.de) nominiert worden. Das kommt überraschend, denn Çakır hat mit der Partie zwischen Manchester City und Real Madrid bereits ein Halbfinalspiel geleitet - und dass ein Unparteiischer in einer Saison gleich zwei Semifinalbegegnungen in der europäischen Königsklasse pfeifen darf, ist ein absolutes Novum.
Für Çakır, den derzeit vielleicht besten europäischen Referee, stellt das zweifellos eine außergewöhnliche Anerkennung dar. Gleichzeitig dürften etliche der anderen rund 30 Unparteiischen, die der "Elite Group" der Uefa angehören - also der höchsten Schiedsrichter-Kategorie des europäischen Fußballverbands - diese Einteilung als Ohrfeige verstehen. Vertraut Pierluigi Collina, der Chef des europäischen Referees, derzeit nur einem kleinen Teil seiner Spitzenreferees? Nicht zuletzt mit Blick auf die anstehende Europameisterschaft wäre das ein beunruhigendes Zeichen.
Quelle: ntv.de