Fußball-Deutschland wird Andreas Brehme nie diesen entscheidenden Elfmeter im WM-Finale 1990 in Rom gegen Argentinien vergessen, als der gebürtige Hamburger die Verantwortung für eine ganze Nation übernahm - und Deutschland zum Weltmeister machte. In der vergangenen Nacht ist die Legende verstorben.
Es war nur ein Schnappschuss, doch auf dem Foto aus dem Oktober 2020, als sich die deutschen Fußball-Weltmeister von 1990 anlässlich des 30. Jubiläums ihres unvergesslichen Triumphs in Italien trafen, sah man einen Andreas Brehme, wie er glücklich strahlte. Im Kreise seiner Kollegen blühte er immer auf. Das Bild wirkte damals wie ein Gemälde. 22 Männer in der italienischen Abendsonne der Toskana. Alle Weltmeister. Und Menschen. Es waren diese Momente, die Andreas Brehme glücklich machten. Denn mit diesen Männern um ihn herum hatte er den größten Erfolg seines Lebens gefeiert. Mit ihnen zusammen war er zu einer Legende geworden.
Rückblick: 8. Juli 1990, 85. Spielminute, WM-Finale in Rom, Deutschland gegen Argentinien. Andreas Brehme steht am Elfmeterpunkt. Minuten zuvor hatte Schiedsrichter Edgardo Codesal den Deutschen einen Strafstoß zugesprochen, nachdem Roberto Sensini Rudi Völler zu Fall gebracht hatte. Die Argentinier waren geschockt und lamentierten energisch. Doch sie hatten ja noch ein echtes Faustpfand, ein Ass im Ärmel beziehungsweise zwischen den Pfosten. Im Tor stand ihr Elfmeterheld Sergio Goycochea.
Dass nun ausgerechnet Andy Brehme am Elfmeterpunkt darauf wartete, dass der Ball endlich freigegeben würde, lag an einem fast schon irrwitzigen Umstand. Denn Lothar Matthäus, der noch im Viertelfinale gegen die Tschechoslowakei die Kugel von der 11-Meter-Marke in den Kasten gehämmert hatte, hatte freiwillig in diesem historischen Moment auf die Ausführung des Elfers verzichtet. Der Grund: In der ersten Halbzeit war ein Schuh des Kapitäns des deutschen Teams kaputtgegangen und er hatte sein Paar komplett wechseln müssen.
Der schwierige Satz des Rudi Völler
Und noch eine weitere kuriose Geschichte am Rande: Die Treter, die Matthäus zuvor angehabt hatte, hatte sich ausgerechnet der größte Rivale der Deutschen in diesem Endspiel, der argentinische Superstar und Weltmeister Diego Armando Maradona, zwei Jahre zuvor beim Abschiedsspiel von Michel Platini von ihm geliehen gehabt - weil er seine eigenen Schuhe vergessen hatte. Unglaublich! Aber daran sieht man, dass Matthäus dieses Paar schon länger in Gebrauch hatte und deshalb seine Begründung, warum er seinem Freund und Mannschaftskameraden Andy Brehme den Vortritt beim Strafstoß ließ, auch nicht mehr ganz so abenteuerlich klingt: "Mit neuen Schuhen geht man ja auch nicht gleich zum Opernball".
Was dann geschah, ist Legende. Andreas Brehme verwandelte cool und lässig in die linke untere Ecke. Goycochea hatte keine Chance, den Ball zu erreichen. Dass der damalige Spieler von Inter Mailand die Kugel in dieser herausragenden Situation so ruhig und abgeklärt im Kasten der Argentinier versenkte, ist gar nicht einmal so selbstverständlich gewesen, wie es aussah und wie viele Fußballfans heute noch glauben.
Denn eine Sache ist in diesem Augenblick genau wie sieben Jahre zuvor gewesen - und damals war Brehme als Spieler des 1. FC Kaiserslautern in einer historischen Partie, die Bayern traten erstmals in blau-gelben Trikots auf dem Betzenberg an, am Münchener Torhüter Jean-Marie Pfaff gescheitert. Und das wohl vor allem auch deshalb, weil ihm der belgische Nationalkeeper unmittelbar vor der Ausführung Folgendes ins Ohr geflüstert hatte: "Den halte ich jetzt. Mit so einem falschen Elfmeter dürft ihr doch nicht gegen uns gewinnen!"
Und nun stand Andy Brehme im Olympiastadion von Rom im WM-Finale unverhofft und einsam am Elfmeterpunkt. Und was tat sein Mannschaftskamerad Rudi Völler? Mitten in die wildesten Tumulte der Argentinier um die beiden herum, trat Völler an Brehmes Seite und hauchte ihm verschwörerisch-ernst den ungemein klugen wie in dieser äußersten Stress-Situation so fürchterlich gemeinen Satz ins Ohr: "Andy, wenn du den reinmachst, sind wir Weltmeister."
Herzzerreißende Szenen nach dem Abstieg
Dieses Mal aber ließ sich der gebürtige Hamburger nicht aus dem Konzept bringen und entschied in diesem Moment auf gewisse Weise auch den Rest seines Lebens und seiner Karriere. Denn als Brehme einige Jahre später Trainer des 1. FC Kaiserslautern werden sollte, sagte Lauterns damaliger Präsident Jürgen Friedrich: "Wer einen Elfmeter schießen kann, kann auch ein guter Trainer werden." Das war leider jedoch ein Missverständnis. Sein Ausflug ins Übungsleiterfach war nicht von langer Dauer und vor allem nicht von Erfolg gekrönt. Im Leben nach dem Triumph von Rom tat sich Andreas Brehme häufig schwer. Umso schöner und größer waren die Erinnerungen an vergangene Zeiten.
Denn mit Völler verband Brehme noch eine andere besondere Geschichte, die Fußball-Deutschland tief bewegte. In der Spielzeit 1995/96 kam es im Bundesliga-Keller zu einem denkwürdigen Abstiegsendspiel zwischen Bayer Leverkusen und dem 1. FC Kaiserslautern. Acht Minuten vor Schluss schoss damals Markus Münch, in seiner letzten Partie für die Leverkusener, das wichtigste Tor seiner Karriere. Es war der 1:1-Ausgleich, der Bayer rettete und Lautern in die zweite Liga beförderte. Es war der finale Tiefpunkt einer Saison, die Andreas Brehme später einmal als "die bitterste Enttäuschung meiner Laufbahn" bezeichnen sollte.
Nach der Begegnung kam es im TV-Studio von "Premiere" zu herzzerreißenden Szenen, als Lauterns Andreas Brehme in den Armen seines Weltmeister-Kollegen und Freundes Rudi Völler live vor einem Millionenpublikum bittere Tränen des Abstiegsschmerzes vergoss. Es ist eines der unvergesslichsten Bilder der Bundesligageschichte! Brehme war damals untröstlich, doch er schämte sich seiner Tränen nicht. Erst als sein Trainer Eckhard Krautzun eintraf, schnäuzte sich Brehme und sprach mit verstopfter Nase und tränenerstickter Stimme einige schwer verständliche Worte ins Mikrofon. Rudi Völler, der an diesem Tag das letzte Spiel seiner Karriere bestritten hatte, hielt Brehme die ganze Zeit über tröstend im Arm.
Für "Mister Zuverlässig" (wie nicht nur Rudi Völler ihn nannte) stand damals sofort fest, dass er als Absteiger nicht würde aufhören wollen und können: "Zum ersten Mal in seiner Geschichte musste der FCK ins Unterhaus. Zu all den SV Meppens, die sich dort tummelten. Mir tat die ganze Pfalz leid, Fußball ist alles für die Menschen dort."
Andreas Brehme bleibt unvergessen
Was er damals noch nicht ahnen konnte: Genau zwei Jahre später waren die Tränen nicht nur mehr als vergessen, Andreas Brehme durfte auch wieder jubeln - und wie. Zusammen mit seinem 1. FC Kaiserslautern hatte der Aufsteiger das einmalige Wunder vollbracht, nur zwei Jahre nach dem Abstieg die deutsche Meisterschaft zu holen. Andreas Brehme hatte schon mitten in der Saison gesagt: "Es wäre natürlich das Größte, wenn ich mit dem Meistertitel abtreten könnte." Als es tatsächlich so kam, war er nur noch glückselig.
Eine andere Sache begleitete Andreas Brehme zeitlebens ebenso wie der Weltmeistertitel: Seine verbalen Lattentreffer - wie "Wenn der Mann in Schwarz pfeift, kann der Schiedsrichter auch nichts mehr machen" oder "Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß" - sind in die Geschichte des deutschen Fußballs eingegangen. Was allerdings nur wenige wissen: Andreas Brehme ist auch der Wegbereiter des legendären Spruchs von Jürgen "Kobra" Wegmann ("Erst hatten wir kein Glück und dann kam auch noch Pech hinzu"), als er einmal so schön philosophisch formulierte: "Tatsache ist, dass wir in dieser Saison noch kein Spiel mit Glück gewonnen, sondern lediglich Spiele mit Pech verloren haben."
In seinen letzten Jahren war es deutlich ruhiger um den Weltmeister von 1990 geworden. Die Schlagzeilen rund um den Helden von Rom, den die "Hörzu" einst so beschrieb - "Andreas Brehme, der lange Jahre seiner Karriere als Filigrantechniker so viel galt wie Rambo Stallone als Charakterschauspieler" -, hatten nur noch selten etwas mit Fußball zu tun. Anfang Januar hatte Andreas Brehme den Tod seines Freundes und Trainers Franz Beckenbauer betrauert. Damals meinte er: "Ich denke, im Himmel wird er mit Pelé und Maradona ein magisches Dreieck gründen."
Auch wenn Andreas Brehme in der vergangenen Nacht verstorben ist, für die Fans der deutschen Nationalmannschaft ist und bleibt der Weltmeister von 1990 unsterblich. Ganz Deutschland wird ihm nie diesen einen Moment vergessen, als er für eine ganze Nation die Verantwortung übernahm und den entscheidenden Strafstoß zum WM-Titel im Kasten des argentinischen Torhüters versenkte. Gestern Nacht ist Andreas Brehme im Alter von 63 Jahren in München an einem Herzstillstand verstorben.
Quelle: ntv.de