Fußball-WM 2018

Kaum Mumm, zu wenig WM-Hingabe? Über Sotschi hängt die DFB-Charakterfrage

Ratlos, aber nicht hoffnungslos nach dem Mexiko-Spiel: DFB-Kapitän Manuel Neuer.

Ratlos, aber nicht hoffnungslos nach dem Mexiko-Spiel: DFB-Kapitän Manuel Neuer.

(Foto: AP)

Mexiko-Fiasko aufarbeiten, WM-Hebel umlegen, Schweden schlagen: Doch so einfach wird das nicht. In der DFB-Elf gibt es grundlegende Irritationen und Differenzen, Kapitän Neuer vermisst Mut und Einsatzwillen.

Wäre die deutsche Fußball-Nationalmannschaft bei der WM in Russland nicht im Charterflugzeug unterwegs, man müsste sich neben erheblichen sportlichen Sorgen inzwischen auch große ums Reisebudget des DFB machen. Soviel Selbstkritik und Optimismus, wie das Team laut Kapitän Manuel Neuer nach dem WM-Fehlstart mit in den Flieger nach Sotschi genommen hat, das deutete auf massives Übergepäck hin. Und da ist die Vorsilbe "Zweck" noch nicht einmal mitgewogen. Anders als in Mexiko-Stadt waren am Sonntag in Deutschland und rund um Moskau nirgendwo seismische Aktivitäten verzeichnet worden: Aber das "Fiasko Mexicana" hat nicht nur Zuschauer und Fans daheim, sondern auch Neuer und seine Kollegen vor Ort massiv erschüttert. Ihm war vor der Presse anzumerken: Vor allem die unterwältigende Nicht-Leistung in Hälfte eins hat Spuren hinterlassen, womöglich gar Narben, ebenso die entgeisterten Kritiken in der Heimat. Es ist halt so, sagte Neuer: "Das Ergebnis und die Spielweise können wir nicht mehr wettmachen."

In der Wohlfühloase Sotschi am Schwarzen Meer wollen Spieler und Trainerstab seit Dienstagabend den schwarzen Sonntag gegen Mexiko aber zumindest aus den Köpfen streichen. Das müssen sie auch. Und vorher die richtigen Schlüsse ziehen, sonst könnte tatsächlich schon im zweiten Gruppenspiel am Samstag gegen Schweden (ab 20 Uhr im Liveticker bei n-tv.de) der größte anzunehmende Fußballunfall eintreten: der erste deutsche Vorrunden-K.-o. der WM-Geschichte. Und das als Weltmeister.

Doch das wird er nicht, beteuerte Neuer vor der Abreise aus der Stille Watutinkis hin zu Sotschi, Sonne, Schweden, wie der DFB ein Stimmungsvideo übertitelte. Es hatte zuvor eine rührende Note, wie der DFB-Kapitän am Ende seiner Pressekonferenz ungefragt erklärte: "Nochmals, das was jetzt vielleicht auch noch nicht so verdeutlicht wurde, ist, dass die Mannschaft daran glaubt, dass wir es schaffen, und wir uns für die K.-o.-Runde natürlich qualifizieren." Rührend. Nicht, weil Neuer nach "Mannschaft" eine zweisekündige Kunstpause eingelegt hatte, in der er womöglich nochmal nach der offiziellen Sprachregelung kramte. Sondern weil er diesen großen Glauben, dieses von Bundestrainer Joachim Löw direkt nach der Niederlage als neue WM-Parole herausgegebene "Wir werden das schaffen!" während der vorangegangenen 20 Minuten ja ohnehin schon in gefühlt jeder zweiten Antwort untergebracht hatte.

Sei selbstkritisch, rede nichts schön, sprich Fehler an

Der Auftrag, mit dem der Verband Neuer nach montäglichem Krisenreflex mit dröhnendem Schweigen anstelle des zunächst angekündigten Co-Trainers Thomas Schneider vor die Presse geschickt hatte, lautete ganz offenkundig: Sei selbstkritisch (löblich umgesetzt), rede nichts schön (wäre auch schwer gewesen), sprich ruhig ein paar Fehler an (die Auswahl war groß), aber vergiss um Himmelswillen nicht zu betonen: Wir werden das schaffen! Qua Kapitänsamt ist Neuer für den undankbaren Job prädestiniert, neben den Teamkollegen und auch gleich noch Fußball-Deutschland den Weg aus der Krise zu weisen. Neuer machte das im Kinosaal von Watutinki recht souverän. Aber er machte auch ein wenig den Eindruck, als fühle er sich irgendwie immer noch im falschen Film. Als hätte er, während er auf die Fragen der Journalisten antwortete, lieber noch einmal nachgeschaut, ob er auch wirklich genug Socken und die Flipflops in den Sotschi-Koffer gepackt hat. Restlos überzeugt von den Worten Manuel Neuers klang Manuel Neuer nämlich nicht.

Restlos überzeugt von den Worten Manuel Neuers klingt Manuel Neuer nicht.

Restlos überzeugt von den Worten Manuel Neuers klingt Manuel Neuer nicht.

(Foto: AP)

Während eines großen Turniers wird jedes Wort der Protagonisten noch ein wenig sorgsamer abgewogen als ohnehin im immer sterileren Profifußball - von Teams und Spielern auf der einen, von Medien und Öffentlichkeit auf der anderen Seite. Die Gefahr ist groß, da etwas überzuinterpretieren. Gemessen daran benutzte Neuer abseits aller Parolen eine bemerkenswerte Formulierung: "Befreiendes Gefühl." So beschrieb er die Wirkung der großen DFB-Aussprache vor dem Aufbruch nach Sotschi, es war ein aufschlussreich ernüchternder Einblick ins WM-Innenleben der Nationalmannschaft.

Irritierende Defizite

Dort knirschte es in der erschreckenden ersten Halbzeit gegen Mexiko gewaltig, besonders irritiert hatte Neuer: fehlende Kommunikation auf dem Platz, fehlende Leidenschaft, fehlende Reaktionen "bei uns Führungsspielern". Und ja, sogar fehlende Einigkeit über die Spielweise, deutete Neuer in einen dezenten Appell verpackt gewisse Differenzen an: "Wichtig ist erstmal, dass wir an einem Strang ziehen, alle nach einem Muster spielen sozusagen. Und auch die Philosophie, die der Bundestrainer uns dann nahelegt, die wir natürlich auch mitbesprechen, dass wir das zu 100 Prozent versuchen umzusetzen. Dass es da keine zwei Meinungen gibt, wenn wir auf dem Platz stehen."

Eine Mannschaft, ein Matchplan – das klingt banal, war im DFB-Team zuletzt aber offenkundig nicht der Fall. Auch der Bundestrainer hatte sich ja schon nachhaltig irritiert gezeigt, dass das DFB-Spiel plötzlich gar nicht mehr nach dem Löw‘schen Spielrezept schmeckt. Null Tiefe, null Ordnung, null Sicherheit, null Risiko – und null Erklärungen dafür. Die gab es auch vom Kapitän nicht. Der konstatierte nur: "Dieser Mut, dieses Selbstverständnis von uns, und auch das Vertrauen in uns, das hat gefehlt." Aber: "Warum das gefehlt hat, kann ich nicht beantworten." Fest stehe: "Das müssen wir uns ankreiden und das darf uns natürlich nicht mehr passieren."

Spiel aufarbeiten, Hebel umlegen, Schweden schlagen – so einfach geht das nicht, stellte Neuer klar. Anders als Löw, der seit Sonntag schweigt und auch als Psychologe gefordert ist, stellte er recht unverblümt die Charakterfrage, die hängt nun in Sotschi über der DFB-Wohlfühloase. Für Neuer geht es nicht um Aufstellung oder Taktik, man kann halt "nicht alles an einer Tafel beschreiben und ausmalen, wie reagiere ich auf diese Situationen". Es geht um Einsatzbereitschaft, Willen, Kommunikation, um Hingabe für diese WM, die die kürzeste der DFB-Geschichte werden könnte: "Habe ich die Bereitschaft, dieses Turnier zu 100 Prozent anzunehmen, die 100-prozentige Einstellung mitzubringen? Bin ich bereit dafür, alles für die Mannschaft, alles für unser Team zu geben?" Die Antwort muss die DFB-Elf gegen Schweden geben. Ihr Kapitän wirkte nicht, als er ob er sie wirklich schon zu kennen glaubt.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen