Wie es zum olympischen Drama kam Der Tag, an dem Kamila Walijewa zweimal zerbrach

Hart gelandet.

Hart gelandet.

(Foto: AP)

Unabhängig vom Sport ist es vor allem eine menschliche Tragödie, die sich da im olympischen Eiskunstlauf abspielt: Kamila Walijewa zerbricht am Druck - was bei ihrer Trainerin Ärger auslöst. Während es Katarina Witt das Herz bricht, ist sogar IOC-Präsident Thomas Bach alarmiert. Der Skandal wirkt noch lange nach.

Wenn sogar Thomas Bach seine Empörung zum Ausdruck bringt, dann muss bei den Olympischen Spielen wirklich etwas Außergewöhnliches passiert sein. Der windelweiche IOC-Präsident ist kein großer Verfechter der klaren Kante. Erst recht nicht, wenn er damit autokratische Partner, manche sagen sogar Freunde, zu verprellen droht. Aber was am Donnerstag von Peking aus in die Welt ging, was in seinem, dem olympischen Kosmos passiert war, darüber wollte Bach nicht schweigen. Oder konnte es nicht. Der mächtige Sportfunktionär hätte angesichts sich der erschütternden Unbarmherzigkeit der Ereignisse im Eiskunstlaufstadion zum stummen Mittäter gemacht.

Kamila Walijewa war an diesem Donnerstagnachmittag zerbrochen. Und das gleich zweimal. Erst auf der Eisfläche, als die völlig überforderte 15-Jährige vier Minuten lang so verzweifelt darum gekämpft hatte, irgendwie Kontrolle über ihren Kopf und Körper zu bekommen. Und dann hinter der Bande, als sie nach Halt, nach Stabilität suchte und nur den Zorn ihrer eiskalten Trainerin fand. Statt einer Geste des Trosts trommelte von Eteri Tutberidse ein gnadenloses Gewitter der Vorwürfe auf das Mädchen hinab. Nicht empfänglich für irgendetwas anderes als Trost, kreidebleich, dem Zusammenbruch nah.

"Eiskalte Atmosphäre"

"Als ich gesehen habe, wie sie von ihrem Umfeld empfangen wurde, mit etwas, was mir wie eine enorme Kälte vorkam - mir lief es kalt über den Rücken, zu sehen, was da geschah", berichtete Bach nun am Freitag. "Statt sie zu trösten, statt ihr zu helfen, nachdem was geschehen war, konnte man spüren, wie eiskalt die Atmosphäre war. Solch eine Distanz zu erleben, wenn man sich nur die Körpersprache dieser Person angeschaut hat, hat sich das nur noch in der Vorstellung verschlimmert."

"Diese Person" ist Walijewas Trainerin Eteri Tutberidse, die den verzweifelten Teenager mit Missachtung empfing statt mit Trost. "Warum hast du alles so aus den Händen gegeben? Warum hast du aufgehört, zu kämpfen? Erklär mir das!", sagte die wegen ihrer harten Methoden bekannte und gefürchtete Tutberidse, wie auf Videos zu hören war. Bach, ein Freund Wladimir Putins, steht nicht unter Verdacht, es sich gerne mit dem russischen Sport zu verscherzen. Seine Äußerungen sind der für ihn maximal vorstellbare Affront.

Man weiß kaum, was die Welt mehr aufgewühlt hatte: Das herzzerreißende Leiden der 15-Jährigen, deren Leben in diesem Moment wie weggeworfen wirkte. Oder aber die Brutalität der Trainerin, die das Drama auf dem Eis offenbar als persönlichen Angriff auf ihr Lebenswerk empfand. Ob die Empörung der Welt bis hin zu Thomas Bach, der diesen Moment als "verstörend" empfand, etwas mit der 47-Jährigen macht? Kaum vorstellbar. Sie hat ihren Ruf weg. Den Ruf als gnadenlos, knallhart und unbarmherzig. Der ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt berichtete über einen Fall, wo eine junge Sportlerin nach einem verpatzten Trainingslauf in eine Mülltonne gesteckt wurde und dort bis zum Ende Einheit bleiben musste. Tutberidse soll gesagt haben: Müll gehört in den Müll. Verifiziert ist das nicht.

Zerbrechliche Mädchen

Dass die Geschichte von Walijewa als tränenreiches Drama enden würde, das war bereits vorprogrammiert. Einzig unklar war, welche Abzweigung sie auf dem Weg in die Kür, zum tragischen Finale, nehmen würde. Zwei Szenarien lagen nach dem Kurzprogramm bereit: Walijewa, dieses Mädchen voller Magie auf dem Eis, würde die Last der (olympischen) Welt schultern und die positive Dopingprobe (die erst in Peking bekanntgeworden war) für einen zweifelhaften Gold-Moment wegzaubern.

Als Führende nach dem Kurzprogramm hatte sie die Kufen bereits in die Spur gesetzt. Zu befürchten stand aber auch, dass das Jahrhunderttalent im Weltfokus grausam zerbricht. Dass der Druck ihres Umfelds, an den Start zu gehen und die Überlegenheit des Systems im Oval zu beweisen, zu viel für dieses so zerbrechliche Mädchen ist. Den Ausgang der Geschichte kennt man.

"Wir, das ganze Land, wünschen Kamila, dass sie bei den Olympischen Spielen gewinnt", hieß es vor dem Kurzprogramm aus dem Kreml, als die juristisch erkämpfte Teilnahme am Frauen-Einzel feststand. Als Walijewa aber am Donnerstag gegen 14.50 Uhr deutscher Zeit auf das Eis trat, da war die Geschichte noch ungeschrieben. Aber die 15-Jährige wusste da bereits, dass ihr nur ein perfekter Lauf voller Höchstschwierigkeiten reichen würde. Ihre russischen Teamkolleginnen Anna Schtscherbakowa und Alexandra Trusowa hatten beeindruckend vorgelegt. Schtscherbakowa mit einer technisch anspruchsvollen Kür voller Leidenschaft und Magie (es wurde Gold), Trusowa mit ihrem spektakulären und kraftvollen Rock'n'Roll, mit einer wilden und am Ende silbernen Luft-Show mit fünf Vierfachsprüngen befreit indes von jener Kunst, die im Wortsinn der Disziplin steckt.

"Der Welt zum Fraß vorgeworfen"

Und Walijewa? "Man hat sie der Welt zum Fraß vorgeworfen", urteilte Katarina Witt in der ARD unter Tränen und um Fassung ringend. Die 15-Jährige hatte dem schier unmenschlichen Druck nicht Stand gehalten. Hinter der Japanerin Kaori Sakamoto blieb ihr nur Platz vier. Weil sie ihre Kür nicht so perfekt durchbrachte wie noch im Team-Wettbewerb, stattdessen stürzte und patzte. "Das ist eigentlich nicht zu ertragen", sagte Witt. "Es ist genau das eingetreten, wofür man sie hätte schützen müssen. Sie ist 15, sie ist ein Kind, du siehst sie da sitzen, wie sie zusammenbricht." Walijewa lief unter Tränen vom Eis, brach anschließend noch mehr zusammen. Eben ohne Mitgefühl von Tutberidse zu erhalten.

So weit hätte es nicht kommen dürfen, sagte Witt. "Ich finde fast keine Worte. Eine Mama oder irgendjemand Verantwortungsvolles hätte sie rausnehmen müssen, in den Flieger setzen, drei Monate weg von diesem Trubel - bevor überhaupt dieser Tsunami losgebrochen ist." Stattdessen musste Walijewa raus aufs Eis, allein und allein gelassen gegen den Skandal anlaufen und -springen. Es gelang ihr nicht. "Sie ist in diesem ganzen Spiel die Verliererin. Sie ist ein 15-jähriges Mädchen, ob wir sie jemals wiedersehen, dieses Talent, ich könnte verrückt werden! Es ist so verantwortungslos, was hier gemacht wurde", zeigte sich Witt empört.

"Hoffnungen und Träume einer gesamten Nation"

"Diese Tage waren sehr schwer für mich. Ich freue mich, aber gleichzeitig bin ich emotional müde", hatte Walijewa schon vor dem Start in den Wettbewerb im russischen Staatsfernsehen gesagt. Dann weinte sie. "Das sind wahrscheinlich Tränen des Glücks, aber auch des Kummers." Geblieben ist von dem Gefühlschaos vor allem der Kummer, vielleicht oder ganz sicher aber auch die Erleichterung, dass es vorbei ist. Vorerst. Der Sportgerichtshof CAS hatte eine vorläufige Suspendierung Walijewas nur kassiert, weil sie ein faires Verfahren erhalten müsse.

Dem wird sich die 15-Jährige nun stellen müssen. Für Substanzen in ihrem Blut ist sie sportrechtlich erst einmal selbst verantwortlich. Mit dem Ende des olympischen Traums, der schnell zum vom "Boléro" von Maurice Ravel schwungvoll untermalten Albtraum wurde, ist der als Wunderkind in die Spiele gestartete Teenager noch lange nicht von allem Druck befreit. Die Spiele von Peking, bei denen Walijewa die Welt erst begeisterte und dann verstörte, bleiben in Erinnerung - und sind auf ewig mit den Bildern der jungen Russin verbunden. "Für mich war es sehr verstörend, die Bilder von Kamila Walijewa gestern Abend zu sehen, insbesondere die kalte, unempathische Reaktion ihrer Trainerin im Anschluss", sagte Thomas Weikert, der Chef des Deutschen Olympischen Sportbundes. "Eine 15-jährige Sportlerin einer solchen Situation auszusetzen, ist unverantwortlich. Hier muss das Wohl der Athletin an oberster Stelle stehen." Man müsse eine Diskussion darüber führen, welchen Leistungssport man wolle, sowohl in Deutschland als auch international.

Für Russlands Vize-Ministerpräsident Dmitri Tschernyschenko ist die Diskussion müßig. Olympische Spiele seien für alle Athleten der "Höhepunkt des Profisports", verbunden mit "Hoffnungen und Träumen einer gesamten Nation". Dies sei für die Sportler ein "bekannter Druck, und das ist es auch, was sie mit ihrem Kampfgeist antreibt", sagte Tschernyschenko. Walijewas Kampfgeist, der sie noch zu einer beeindruckenden Vorstellung im Kurzprogramm geführt hatte, löste sich in der Kür vor den Augen der Welt auf. "Nun ja, Walijewa ist Vierte geworden. Im Hochleistungssport gewinnt eben der Stärkste", hieß es aus dem Kreml.

"Ich hasse euch alle"

Silbermedaillengewinnerin Trusowa übrigens tobte nach dem Wettkampf, der der 17-Jährigen Silber einbrachte. Das ging in der sich nun mit voller Wucht ausrollenden Walijewa-Tragödie beinahe etwas unter. Sie rief "ich hasse diesen Sport, ich hasse euch alle." Nie wieder wolle sie aufs Eis treten. Was für ein Druck, der sich auch bei diesem Mädchen vehement zu entladen schien. Dabei hätte sie doch Grund zur Fröhlichkeit gehabt, denn immerhin ermöglichte Walijewas Zusammenbruch doch eine hochoffizielle Medaillenzeremonie. Die, das hatte das IOC zuvor angekündigt, wäre für alle ausgefallen, hätte Walijewa einen der ersten drei Plätze belegt.

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In Russland nahm man die erschrockenen Äußerungen Bachs wenig begeistert auf: Vize-Ministerpräsident Tschernyschenko gab sich "zutiefst enttäuscht darüber, einen IOC-Präsidenten zu erleben, der sein eigenes fiktives Narrativ zu den Gefühlen unserer Athleten spinnt und diese dann öffentlich als Stimme des IOC präsentiert", sagte Tschernyschenko dem Branchendienst "insidethegames".

"Unangemessen und falsch" seien die Worte des Funktionärs, dem Putin schon 2014 nach den Olympischen Spielen in Sotschi den "Orden der Ehre" verliehen hatte - für dessen "Beitrag zur Entwicklung der internationalen olympischen Bewegung sowie Verdienste bei der Vorbereitung russischer Sportler". Der Kreml immerhin bemühte sich um den diplomatischen Ton: "Thomas Bach ist die höchste Autorität im Sport und leitet das IOC. Deshalb nehmen wir seine Meinung mit Achtung auf. Aber wir stimmen nicht unbedingt mit ihm überein", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow.

Quelle: ntv.de

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