
Die Spiele finden statt, trotz Pandemie.
(Foto: imago images/AFLOSPORT)
Tausende Sportler*innen reisen um die Welt, um bei den Olympischen Spielen in Tokio dabei zu sein. Nach der Fußball-EM steht das nächste fragwürdige Großevent an, immerhin ohne Zuschauer. Die Athlet*innen teilen die Skepsis, freuen sich aber dennoch auf ihre Wettkämpfe. Aus guten Gründen.
Keine Zuschauer. Quarantäne nach der Anreise, Abreise spätestens 48 Stunden nach dem eigenen Wettkampf. Hotel verlassen nur fürs Training und das unter Aufsicht, nur mit eigenem Fahrer oder eigener Fahrerin und streng abgeschirmt. Essen nur in bestimmten Restaurants. Kein Sightseeing, keine Spaziergänge, keine freie Zeiteinteilung, keine spontanen Treffen mit anderen Sportler*innen.
Das ist nicht etwa das Szenario eines Endzeit-Epos, sondern die Realität, die die Sportler*innen bei den Olympischen Spielen in Tokio erwartet. Sommerspielen, die wegen der Coronavirus-Pandemie um ein Jahr verschoben werden mussten, die nun aber vom 23. Juli bis 8. August stattfinden werden. Mit harten Bandagen. Und trotzdem wollen die meisten Athlet*innen unbedingt dabei sein. Absagen wie etwa von den Tennis-Stars, von Golf- und Basketball-Idolen kommen für sie nicht infrage: "Ich habe jetzt fünf Jahre dafür gearbeitet, mal abgesehen von den ganzen Jahren, die ich davor schon geboxt habe", sagt Nadine Apetz gegenüber ntv.de. Ihre Box-Gewichtsklasse wird das erste Mal olympisch sein: "Ich wollte 2016 schon mit dem Leistungssport aufhören und habe es extra für diese Chance verlängert, das sollte mein großer Karrierehöhepunkt werden. Gerade nach dem letzten sehr harten Jahr, was motivationstechnisch und vom Kopf her sehr schwierig war, ist es die größte Belohnung, jetzt hier sein zu dürfen."
Turnerin Elisabeth Seitz wird bereits ihre dritten Olympischen Spiele erleben und dennoch nennt sie die Austragung in Tokio im ZDF ein "Riesengeschenk". "Es ist bei mir eine große Dankbarkeit da, dass diese Spiele stattfinden können." Ruderer Richard Schmidt hat bereits Olympiagold mit dem Deutschland-Achter eingefahren, doch auch er sagt dem ZDF: "Zum Glück finden die Spiele überhaupt statt."
"IOC lässt die Athleten nicht im Stich"
Sie alle eint die Erleichterung, dass die Wettkämpfe ausgetragen werden. Sie alle eint die Hoffnung, dass die Spiele nicht zum Pandemie-Treiber werden. Und, dass der Spagat zwischen Sportfest und Unmut der japanischen Bevölkerung gelingt. Die Mehrheit ist gegen die Austragung der Olympischen Spiele inmitten der Pandemie, nur 22 Prozent im Gastgeberland sind für eine Austragung. Doch ihre Meinung trifft beim Internationalen Olympischen Komitee wie beim japanischen Organisationskomitee auf wenig Gehör. Die Spiele werden durchgezogen. Ganz anders zwar als geplant, aber mit etwa 11.000 Athlet*innen, die nach Japan reisen, mit Tausenden Betreuenden, mit VIPs, für die das Zuschauerverbot natürlich nicht gilt, für viele Medienschaffende, mit freiwilligen Helfenden.
IOC-Präsident Thomas Bach stellt es als Geschenk dar: "Das IOC lässt die Athleten nicht im Stich." Man habe mehr Geld investiert, um die Spiele ein Jahr später veranstalten zu können. "Wir können selbstbewusst sagen, dass wir das Risiko für diese Spiele minimiert haben", beteuert Bach. Es klingt pathetisch und fürsorglich. Und tatsächlich entspricht es dem Wunsch der Sportler*innen, die sich wie Apetz jahrelang vorbereitet haben. Sie wollen es einmal auf die große Bühne schaffen, sich einmal der Weltöffentlichkeit beweisen, ihren Sport repräsentieren, einmal gefeiert und verehrt werden. Olympia, das ist der Traum. Olympia, das ist der Höhepunkt der Karriere. Welt- und Europameisterschaften, gut und schön, aber nichts gegen Olympia.
Eingesperrt sein als Routine
Für ihren Traum von Olympia nehmen die Athlet*innen viele Einschränkungen in Kauf. Sie nehmen fast schon gefängnisartige Zustände hin, dürfen sich nicht frei bewegen, müssen in ihren Hotels und später dem Zimmer im Olympischen Dorf ausharren. Wasserspringer Patrick Hausding beschrieb es nach den Qualifikationswettkämpfen, die in Tokio durchgeführt wurden, so: "Ich wurde in meinem ganzen Leben noch nie so eingepfercht. Ich habe im zehnten Stock gewohnt. Dort gab es keinen Balkon oder Außenfläche, das Fenster im Hotel war eine Scheibe, die nicht zu öffnen war." Weiter sagte er dem Deutschlandfunk: "Wir durften nur zur Rezeption runter, wenn es Richtung Sprunghalle ging. Und in der Halle wurden wir auch direkt wieder gebeten, reinzugehen. Also man durfte nicht draußen seine Zeit verbringen oder stehenbleiben, damit die sicherstellen, dass wirklich niemand durch eine Lücke abhaut."
So erlebt es auch Boxerin Apetz derzeit, die 35-Jährige und ihr Team sind bereits in Japan angekommen, bleiben bis zum 20. Juli in Miyazaki, auf der südlichen Insel Kyushu: "Dass wir mal wieder eingesperrt sind, ist leider schon fast zur Routine geworden. Die Trainingslager des letzten Jahres waren zu einem absoluten Großteil in Corona-Bubbles." Die Situation ist hart: "Wir haben hier einen wunderschönen Park vor der Tür, wir sind direkt am Meer, aber wir dürfen nicht einmal raus joggen gehen, geschweige denn zum Strand. Es fällt einem schonmal eher die Decke auf den Kopf, als wenn man mal nachmittags spazieren gehen oder einen Kaffee trinken kann."
Finanzielle Abhängigkeit ist groß
Sie nehmen es hin - für Olympia. Zumindest Sportler*innen, die sonst nicht so im Blickpunkt stehen, in denen nicht das große Geld regiert. Wie etwa beim Tennis, wo die halbe Elite fehlen wird, oder beim Fußball, wo Deutschlands Trainer Stefan Kuntz sich mit den Klubs herumärgern muss und mit gerade mal 18 von 22 möglichen Spielern antritt. Anders als bei gerade zu Ende gegangenen Fußball-EM im Übrigen, bei der selbstverständlich alle Klubs ihre Spieler ziehen ließen. Zu einem Turnier, das über den Kontinent verteilt war, bei dem Zuschauermassen zugegen waren, bei dem die Pandemie hinter dem Ansinnen der UEFA zurückstecken sollte. Das große Geld ist im Fußball anders verteilt.
Es liegt nämlich nicht nur am Gefühl, dass Olympia für die meisten Sportler*innen das wichtigste auf der Welt ist, es liegt auch am Geld. Die Spiele werden vom IOC längst so vermarktet, dass Abhängigkeiten bestehen. Der Druck ist groß, nur wer auf der ganz großen Weltbühne Leistung bringt, bekommt auch die guten Angebote der Sponsoren. Wer von seinem Sport leben will und muss, beugt sich dem Diktat. Karrieren sind nach dem Olympiazyklus ausgerichtet. Kanu-Ass Ronald Rauhe etwa hängte ein Jahr dran, um noch einmal teilnehmen zu können, eigentlich hätte der 13-malige Weltmeister und vierfache Olympia-Medaillengewinner schon 2020 seine Karriere beenden wollen.
Es geht aber nicht nur ums Geld für die Sportler*innen. Olympia ist ein Milliardengeschäft, auch für das IOC, Japan und die Sportverbände weltweit. Sponsoren sind da, wo die Aufmerksamkeit ist, allein 60 Firmen in Japan wollten zusammen rund drei Millionen Euro zahlen. Verluste durch die Pandemie-Situation lassen sich nicht kompensieren. TV-Rechte, aus Europa gibt es mehr als 400 Millionen Euro von Discovery, in den USA lässt sich der Sender NBC die Übertragungsrechte rund eine Milliarde Euro kosten. Sportverbände, die von den Einnahmen des IOC profitieren, rund 90 Prozent werden an Unterorganisationen in jedem Land weitergereicht.
Ohne diese Gelder wäre es inmitten der Pandemie wohl selbst für einige Regionalverbände in Deutschland schwer geworden. Baukosten für die Arenen und Unterkünfte, die die Organisatoren stemmen müssen. 13 Milliarden Euro sollen die Spiele inzwischen etwa kosten, noch einmal gut 20 Prozent mehr, als es im vergangenen Jahr gewesen wären. Zudem fallen die Einnahmen durch Fans weg, die nicht dabei sein dürfen. 815 Millionen Dollar waren dafür Berichten zufolge einkalkuliert worden.
Die Diskrepanz zur Fußball-EM
Es werden teure Spiele, es werden andere Spiele, stille Spiele. Eine Kulisse, an die Nadine Apetz aber gewöhnt ist: "Wir boxen oft vor leeren Rängen. Selbst bei Europa- und Weltmeisterschaften sind meist nur die restlichen Teams im Publikum und feuern an", erklärt das Mitglied von Athleten Deutschland, bekennt aber auch: "Es wäre natürlich schön gewesen, den starken Kontrast dazu zu erleben und dieses Gefühl, vor einem Riesenpublikum zu boxen."
Einer, der dieses Gefühl kennt, ist Max Hartung. Der Präsident von Athleten Deutschland findet den Publikumsausschluss "nachvollziehbar". Dass es bei der Fußball-Europameisterschaft ganz anders war, dass in London zu den Halbfinals und dem Finale mehr als 60.000 Zuschauer ins Stadion durften, macht ihn keineswegs neidisch. "Mich besorgen die Bilder eher, mit den vielen Fans und den vielen Infektionen auch. Ich finde es vernünftig, dass es in Japan nicht so gehandhabt wird", sagte er nach der Entscheidung.
IOC-Präsident Bach betont derweil die "Milliarden Menschen rund um den Globus", die "die Spiele im Fernsehen und Internet verfolgen" werden. Er ist sich sicher, dass die Spiele trotz der Bedingungen einen "hohen sportlichen Wert" haben werden. "Wie bei jedem Olympia werden neue Stars geboren werden, neue Legenden erschaffen." Dann würden sich all die Einschränkungen, all der Verzicht und fünf Jahre Vorbereitung für Apetz und Co. ausgezahlt haben. Ob das auch die japanische Bevölkerung so sieht, das hängt ganz sicher auch von der Entwicklung der Pandemie ab.
Quelle: ntv.de