
Stefan Kuntz und sein Co-Trainer Antonio di Salvo mussten viel Überzeugungsarbeit leisten.
(Foto: imago images/Schüler)
Keiner von Borussia Dortmund, keiner vom FC Bayern: Mit einem Rumpfkader fliegt U21-Trainer Stefan Kuntz zum olympischen Fußballturnier nach Tokio. Wie schon vor fünf Jahren entpuppt sich die Zusammenstellung des Teams bei den Herren als Puzzle. Anders sieht es bei der Konkurrenz aus.
Die Koffer sind schon lange gepackt, das Flugzeug ist auch schon abgehoben. Seine überschwängliche Olympia-Vorfreude teilte U21-Trainer Stefan Kuntz mit der ganzen Welt. Wer wissen will, wo das DFB-Team der Herren gerade steckt, braucht nur einen Blick auf Kuntz' Instagram-Profil zu werfen. So konnte man erfahren, dass es in der gleichen Maschine wie Brasiliens Volleyball-Teams ("Alle über 1,90 Meter") am gestrigen Dienstag Richtung Tokio zu den Olympischen Spielen ging.
Neben Kuntz, den brasilianischen Volleyballerinnen und Volleyballern saß auch die deutsche Fußball-Olympiaauswahl an Bord. 22 Spieler hätten es sein dürfen - 19 Feldspieler und 3 Torhüter. Geworden sind es mit viel Geduld und Verhandlungsgeschick gerade einmal insgesamt 18 Profis. Ursprünglich nominiert hatte Kuntz 19 Medaillenjäger, von denen drei dann wieder absagten, wofür Kuntz aber nur zwei Ersatzleute auftreiben konnte. Schon das löste bei Kuntz leichten Unmut aus: "Ich glaube, dass keine Sportart nicht alle Kaderplätze besetzt. Ich finde, das ist kein optimales Zeichen vom Fußball - bei allem Verständnis." Das Problem am olympischen Turnier ist nämlich, dass es anders als sonst bei Länderspielen üblich keine Abstellungspflicht gibt.
Den Olympiakader zu benennen, das stellt sich deshalb alle vier (oder diesmal fünf) Jahre bei den Herren wieder als Puzzle mit Tausenden Teilen heraus. Beim vorherigen Mal (und dem ersten seit 1988) hatte HSV-Urgestein Horst Hrubresch diese Aufgabe übernommen. 2016 musste er die Kaderankündigung sogar um einen Tag verschieben. Dafür bekam er aber auch mit Joshua Kimmich, Julian Weigl, Davie Selke und Julian Brandt eine schlagkräftige Mannschaft zusammen, die Silber holte.
Auch Hrubresch hatte Probleme
Diesmal stand der Kader zwar pünktlich fest, dafür aber mit drei unfreiwillig unbesetzten Plätzen. Überhaupt ein Team zusammenzubekommen, das brauchte viel Verhandlungsgeschick: Wie auch Hrubresch vereinbarte Kuntz mit den Vereinen, maximal zwei Spieler pro Klub mitzunehmen. Man stelle sich vor, Bundestrainer Hansi Flick müsste sich mit so einer Regel auseinandersetzen, wenn er den Kader für die Katar-Weltmeisterschaft nominiert, die laut Sky offenbar nur acht Tage nach dem Ende der Bundesliga-Hinrunde beginnt.
Oben darauf kam, dass erst der HSV-Verteidiger Josha Vagnoman verletzt ausfiel, dann Niklas Dorsch, der zum FC Augsburg wechselte. Weil der Verein schon zwei Spieler abstellte (Felix Uduokhai und Marco Richter), muss der Neuzugang in Bayern bleiben. All das half Kuntz bei der Olympia-Planung nicht wirklich. Viel erzürnter (und wahrscheinlich auch mit Recht) war Kuntz über den Bundesliga-Primus. Denn ohne dessen Namen zu nennen, ließ der DFB-Coach sich über den FC Bayern aus. "Du hast zwei, drei Vereine, die helfen dir super, die unterstützen das. Aber bei dem ein oder anderen großen Verein kriegst du nicht mal den dritten Torhüter mit. Da muss ich meine Emotionen auch noch ein bisschen zügeln", sagte er in der ARD.
Es ging in diesem Fall um den (laut FC-Bayern-Homepage) sogar vierten Keeper, Ron-Thorben Hoffmann. Der 22-Jährige stand zwar schon öfter im Profi-Kader, wartet aber schon länger auf sein Debüt. In naher Zukunft ist das auch nicht abzusehen, denn mit Sven Ulreich ist gerade erst ein neuer alter zweiter Torwart zum FC Bayern zurückgekehrt.
Sechs EM-Fahrer für Spanien dabei
Klar, der FC Bayern steckt in einem (kleinen) Umbruch, jede Sekunde mit dem neuen Trainer, Julian Nagelsmann, ist, besonders in der Vorbereitung, äußerst kostbar. Dennoch hätte man Hoffmann wenigstens etwas Spielzeit gewähren dürfen, wenn schon sonst niemand mit nach Tokio fährt. Auch wenn Manuel Neuer noch im EM-Urlaub und der etatmäßige dritte Torwart Christian Früchtl verletzt ist. Das gleiche Bild findet sich übrigens bei Borussia Dortmund: Auch hier gibt es einen neuen Trainer mit Marco Rose, unter dem potenzielle Olympiafahrer wie Julian Brandt oder Mahmoud Dahoud eine neue Chance wittern. Der BVB fehlt im deutschen Aufgebot.
Dass es auch anders gegangen wäre, zeigt die deutsche Konkurrenz. Ihr Auftaktspiel bestreitet die DFB-Auswahl gegen Brasilien. Wie konkurrenzfähig die Kuntz-Elf ist, ist noch unklar. Leipzigs Benjamin Henrichs fasste es so zusammen: "Diese Mannschaft hat so noch nie zusammengespielt, wir müssen uns finden." Ganz anders aber Brasilien. Die Elf bereite sich seit fast einem Monat auf das Turnier vor, "wir haben zehn Tage", erklärte Henrichs.
Während beispielsweise Herthas Matheus Cunha seit der Sommerpause noch gar nicht bei seinem Verein war, sondern sich mit der Seleção vorbereitete, waren seine deutschen Kollegen Jordan Torunarigha und Arne Maier noch mit im Trainingslager in Neuruppin.
Die Spanier werden vermutlich auch keine besonders lange Vorbereitung haben. Brauchen sie vielleicht auch nicht. Denn anders als die DFB-Elf kann Trainer Luis de la Fuente kadertechnisch aus dem Vollen schöpfen. Im Aufgebot stehen insgesamt sechs EM-Fahrer. Darunter auch Pedri, der von der UEFA als bester junger Spieler der EM ausgezeichnet wurde. Für seinen Flug nach Tokio riskierte er einen Zwist mit dem FC Barcelona.
Selbst Barça musste betteln
Medienberichten zufolge versuchte Barça, den spanischen Verband zu überzeugen, von der Nominierung abzulassen, schließlich hat der 18-Jährige schon bei den Katalanen kaum ein Spiel verpasst und auch bei der Europameisterschaft viele Minuten gespielt. Gerade mal zwei Tage Pause vor dem Abflug nach Japan gibt es für den Dauerläufer. Schuld daran, dass sogar der FC Barcelona um einen seiner Schlüsselspieler betteln muss, ist eine Besonderheit im spanischen Sportgesetz: Wenn der Fußballverband seinen Olympiakader festlegt, müssen spanische Vereine ihre Spieler abstellen.
In Deutschland gibt es so etwas nicht. Alles beruht stattdessen auf zähen Absprachen und langen Verhandlungen zwischen DFB und Klubs, darüber, wer seine Profis freiwillig freigibt. Jetzt kann darüber gestritten werden, ob das Ursache oder Symptom der Olympia-Verdrossenheit im Herrenfußball ist. Und da kann es auch sein, dass der letzte DFB-Trainer, der einen Titel gewonnen hat (U21-Europameister 2021), um jeden seiner Spieler kämpfen muss, sei es auch der vierte Torwart des Rekordmeisters.
Kuntz sagte noch vor einigen Tagen in der Handball-Talkshow "DHBspotlight" selbst, Deutschland sollte sich "nicht die Blamage geben, dass nicht genug Leute da sind, um 22 Mann nach Tokio zu schicken, wonach es im Moment leider aussieht". Insgesamt musste der DFB 100 mögliche Spieler melden, die noch hätten nachnominiert werden können. Kuntz telefonierte die gesamte Liste ab, nach dem Ausfall von Jacobs (Wechsel zur AS Monaco) kam niemand dazu.
In den letzten Wochen habe er nicht die Faust in der Hosentasche gehabt, "es ist ein Dialog", sagte Kuntz: "Der eine oder andere Spieler wollte nicht, auch aus egoistischen Interessen", um seine "Chancen" zu nutzen. Gerne vergessen die Vereine, dass sie auch etwas davon haben, wenn ihre Spieler sich bei solchen Turnieren ihren Marktwert aufpolieren.
Doch für das alles ist es jetzt zu spät. Die auserwählten 18 sind schon lange auf dem Weg und Kuntz merkte kurz vor dem Abflug noch an: "Damit ist aber auch gut mit der Beklagerei. Sonst werden wir den Jungs nicht gerecht, die voller Freude für Olympia brennen." Denn er tut es auf jeden Fall. Und damit ist er nicht allein. Der 33-jährige Max Kruse, der so immerhin sein Comeback im DFB-Dress geben darf, sagte: "Viele von uns haben Olympia schon geschaut, als sie noch klein waren. Deshalb ist es eine Ehre, dabei sein zu dürfen."
Quelle: ntv.de