Insolvenzverwalter-Verbandschef "Anstieg der Insolvenzen ist auch eine gute Nachricht für die Wirtschaft"
19.06.2024, 18:27 Uhr Artikel anhören
Firmen konkurrieren um zu wenige Arbeitskräfte, zu teure Energie und knappes Kapital. "Unternehmen, die kein tragfähiges Geschäftsmodell haben, müssen vom Markt verschwinden, um Ressourcen für gute, zunkunftsträchtige Konzepte freizumachen", sagt Christoph Niering.
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Dank politischer Eingriffe gab es in den vergangenen Krisenjahren kaum Unternehmenspleiten in Deutschland. Das ändert sich. Die Zahl der Insolvenzen steigt steil an. Der Vorsitzende des Verbands der Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands (VID), Christoph Niering, will im ntv.de-Interview dennoch nicht von einer "Pleitewelle" sprechen. Gerade in der aktuellen, angespannten Wirtschaftslage sei es wichtig, dass wieder mehr Unternehmen pleitegingen.
ntv.de: Die Zahl der Insolvenzen ist im ersten Quartal im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um mehr als 26 Prozent in die Höhe geschnellt. Ist das nach der Zeit politisch verhinderter Insolvenzen in den vergangenen Jahren eine Normalisierung oder ist das der Beginn einer Pleitewelle?
Christoph Niering: Ich möchte dieses Bild von der Welle vermeiden. Das suggeriert, dass etwas über uns hereinbricht, was nicht mehr beherrschbar ist. Davon kann derzeit keine Rede sein. Wir sind weit von den Insolvenzzahlen entfernt, die wir etwa zur Zeit der globalen Finanzkrise hatten. Andererseits muss ich aber auch sagen: Wir sehen einen Trend, der klar nach oben zeigt.

Christoph Niering ist Fachanwalt für Insolvenz- und Sanierungsrecht und Vorsitzender des Verbandes der Insolvenz- und Sachwalter Deutschland. Er hat bislang schon mehr als 2000 Insolvenzverfahren betreut.
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Seit Jahren schon wird Deutschland eine Pleitewelle prophezeit. Zunächst hieß es, die lange niedrigen Zinsen beförderten sogenannte Zombieunternehmen, die nur deshalb nicht pleitegehen. Dann kamen die Corona- und die Energiekrise. Doch auch dem hielten die Firmen stand. Die Zinsen sind auch schon länger wieder gestiegen, was der Theorie zufolge die "Zombie-Firmen" ja nicht überleben dürften. Warum setzt diese Entwicklung bei den Insolvenzen gerade jetzt sein?
Die von Ihnen genannten Entwicklungen wirken sich tatsächlich aus, allerdings mit Verzögerung. Es wird häufig unterschätzt, wie lange Unternehmen sich gegen das Unausweichliche sträuben und häufig noch am Markt bleiben können, auch wenn längst klar ist, dass ihr Geschäftsmodell nicht mehr tragfähig ist. Viele Immobilienunternehmen etwa klammern sich an die Hoffnung, dass die Zinsen bald wieder sinken, und ihre Kalkulationen dann wieder aufgehen. Dabei wird die Nullzinszeit nicht oder zumindest nicht in absehbarer Zeit zurückkehren. Und vor allem haben sich die Kundenbedürfnisse strukturell verändert. Das Homeoffice und der demografische Wandel sorgen dafür, dass die Nachfrage nach Büroimmobilien dauerhaft zurückgehen wird. Das Gleiche gilt für den stationären Einzelhandel. Es setzt sich jetzt die Erkenntnis durch, dass der Umbruch in diesen Branchen dauerhaft sein wird.
Sie erwähnten Immobilien und Einzelhandel. Welche Branchen sind noch besonders betroffen?
Noch nicht richtig wahrgenommen wird in der Öffentlichkeit das Ausmaß des Insolvenzgeschehens im Gesundheitswesen. Bei drei der zehn größten Insolvenzen im vergangenen Jahr handelte es sich um Krankenhäuser. Schätzungen zufolge hat nur jedes zweite Krankenhaus in Deutschland ein tragfähiges Geschäftsmodell, jedes vierte Haus gilt als insolvenzreif.
Wieso ist gerade die Gesundheitsbranche so betroffen?
Vor allem kirchliche, freigemeinnützige und kommunale Krankenhausträger haben lange aufgrund ihrer fehlenden Gewinnorientierung auch unrentable Geschäftsmodelle aus eigenen Mitteln finanziert. Dort fehlen dann die notwendigen Mittel, um die notwendige Instandhaltung zu finanzieren. Inzwischen hat sich bei vielen Häusern ein erheblicher Sanierungsbedarf aufgestaut, den diese Träger nicht stemmen können. Bei den Ländern, die gesetzlich für die Investitionen der Krankenhäuser zuständig sind, ist die Kasse auch leer. Und - was viele Branchen betrifft - die Banken sind zögerlicher bei der Kreditvergabe, weil sie Immobilien nicht mehr im selben Maß wie vor einigen Jahren als Sicherheiten akzeptieren, als sich etwa für Krankenhäuser, Büros oder Kaufhäuser immer eine profitable Nutzungs- oder Umnutzungsmöglichkeit fand.
Was kann die Politik tun, um den Anstieg der Insolvenzen zu stoppen? Und sollte sie das überhaupt?
Der deutsche Staat hat in den vergangenen Jahren Unternehmen mit sehr viel Geld unterstützt, um sie vor der Insolvenz zu bewahren. Wie lange soll das weitergehen, wenn die Nachfrage nach bestimmten Waren oder Dienstleistungen nicht mehr da ist? Häufig glauben Unternehmen und ihre Unterstützer, dass sie nur aufgrund der aktuellen Krisen vorübergehende Probleme haben. In den allermeisten Fällen gibt es aber tiefergehende, strukturelle Ursachen, wenn Unternehmen in Schieflage geraten. So etwa bei einem insolventen Baustoffhändler mit einer energieintensiven Produktion, dessen Produktionsanlagen zum Teil auf die Gründung vor über 125 Jahren zurückgehen. Über viele Jahrzehnte hatte man versäumt, im erforderlichen Umfang in moderne energieeffiziente Technologie zu investieren. Als die Energiekrise zuschlug, war es dafür zu spät. Insolvenzen um jeden Preis zu vermeiden, heißt am Ende, solche unausweichlichen Veränderungsprozesse nur zu verlängern.
Ist der Anstieg der Insolvenzen in diesem Sinne eventuell sogar eine positive Nachricht? Ineffiziente Unternehmen, die teilweise jahrelang durch Staatshilfen, Ausnahmeregelungen und niedrige Zinsen am Leben erhalten wurden, sind ja auch eine Belastung für die Wirtschaft.
Ich mag das Wort "Marktbereinigung" eigentlich nicht. Dabei klingt nicht mit, dass es bei jeder Insolvenz auch um persönliche Existenzen geht. Aber dieser Ausdruck hat dennoch seine Berechtigung. Wir leben in einer Zeit der knappen Ressourcen: Unternehmen konkurrieren anders als noch vor einigen Jahren um Arbeitskräfte, Energie und Kapital. Gerade in dieser Zeit sind Insolvenzen notwendig. Unternehmen, die kein tragfähiges Geschäftsmodell haben, müssen vom Markt verschwinden, um Ressourcen für gute, zukunftsträchtige Konzepte freizumachen. Daher haben wir es als Insolvenzverwalter immer wieder kritisiert, wenn es hieß, Insolvenzen etwa in der Corona-Krise müssten um jeden Preis vermieden werden. In diesem Sinne ist der Anstieg der Insolvenzen auch eine gute Nachricht für die Wirtschaft.
Mit Christoph Niering sprach Max Borowski.
Quelle: ntv.de