Drei Varianten für den Brexit-Umzug Jetzt schlägt die Stunde der Anwälte
06.07.2016, 17:20 Uhr
Jetzt wird es erst richtig kompliziert: Das Votum war das eine, die Umsetzung ist das andere.
(Foto: picture alliance / dpa)
Wie auch immer der Brexit konkret aussehen wird, er wird ein bürokratischer Kraftakt. London bekommt vielleicht eigens ein Brexit-Super-Ministerium. Unternehmen auf der Insel wollen aber jetzt schon planen.
Den Briten scheint immer klarer zu werden, was das Brexit-Votum alles nach sich zieht. Erst konnte der Abschied vom Festland nicht schnell genug gehen, jetzt treten plötzlich alle auf die Bremse. "Es ist die größte administrative und legislative Herausforderung, der sich die Regierung, so weit ich mich erinnere, jemals gegenübergesehen hat. Möglicherweise seit 1945," fasste es der ehemals höchste britische Diplomat und Staatssekretär im Außenministerium, Sir Simon Fraser, kürzlich zusammen.
Deshalb sind sich Theresa May, die Favoritin für die Nachfolge David Camerons, und ihr Hauptkontrahent Michael Gove wohl auch darin einig, dass es keine formelle Aufkündigung der britischen EU-Mitgliedschaft vor 2017 geben kann. Beide Kandidaten fürs Premierminister-Amt spielen auf Zeit. Im September soll das Amt neu besetzt werden, beide wollen in Ruhe eine britische Verhandlungsstrategie ausarbeiten, bevor sie das eigentliche Austrittsgesuch stellen. Allen ist klar: Jetzt wird es erst richtig kompliziert.
Innenministerin May, die in der Referendums-Kampagne eigentlich für den Verbleib in der EU eingetreten war, plant als Regierungschefin eigens ein Brexit-Ministerium einzurichten, das den Austritt im Einzelnen bewerkstelligen soll. Ob und wann es kommen wird, wer dort sitzen soll, wie die Zuständigkeiten aussehen werden und welche Hilfestellung die Realwirtschaft dort bekommen wird, das alles liegt zum jetzigen Zeitpunkt aber noch im Dunkeln.
Wie zieht eine Firma um?
Für die Realwirtschaft ist das ein Problem. Auch Unternehmen wollen planen können. Keiner will vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Kommt ein Umzug der Firma überhaupt in Betracht? Wohin könnte die Reise auf dem Festland gehen? Und wie geht ein Firmenumzug überhaupt vonstatten?
Sicher ist, er lässt sich nicht über Nacht bewerkstelligen. Die internationale Rechtsanwaltskanzlei CMS rechnet allein mit einem juristischen Vorlauf von bis zu einem Jahr. Für die, die sich entscheiden auszuwandern, kommen demnach drei Szenarien in Frage: Die erste Variante ist die sogenannte grenzüberschreitende Verschmelzung. Bei dieser erprobten Methode wird ein englisches Unternehmen in der Form der plc oder Limited, das beispielsweise nach Holland umzieht, dort auf eine BV oder NV verschmolzen. Zieht ein Unternehmen nach Deutschland, wäre die aufnehmende Gesellschaft entsprechend eine GmbH oder AG. Der britische Rechtsträger verschwindet und das gesamte Vermögen wandert in den neuen Rechtsträger im Zielland der EU.
Nach Angaben der Anwälte dauert so eine grenzüberschreitende Verschmelzung zwischen einem halben und einem Jahr - je nachdem, wie kompliziert die Konstellation ist: ob es einen großen Gesellschafterkreis gibt oder einen kleinen, ob ein Unternehmen börsennotiert ist oder nicht. "Entscheidet sich ein britisches Unternehmen hierfür, kauft es im Zweifel eine Vorratsgesellschaft. Das geht innerhalb von zwei Tagen, danach kann sofort mit der Verschmelzung begonnen werden", sagt Dirk Jannott.
Entscheidung in der letzten Minute
Eine interessante, weil sehr "schlanke" Alternative ist laut CMS die Europäische Aktiengesellschaft (SE). In Deutschland gibt es inzwischen über 350 davon. Dazu gehören Eon, Porsche, Springer, Allianz und Puma. In Großbritannien gibt es erst 34 Unternehmen mit dieser Gesellschaftsform. Eine plc oder Limited in Großbritannien könne relativ einfach in eine SE umgewandelt werden, so Marcel Hagemann von CMS. In einem zweiten Schritt könnte diese SE dann sehr leicht über die Grenze verlegt werden.
"Der Charme besteht darin, dass man möglichst lange mit seiner Entscheidung, zu gehen, abwarten und die Verhandlungen beobachten kann", ergänzt Hagemann. Im Unterschied dazu müsse die grenzüberschreitende Verschmelzung schon zu einem Zeitpunkt angeschoben werden, zu dem noch gar nicht abzusehen sei, wie die Vereinbarungen zwischen EU und Großbritannien aussehen werden. Ein Firmenumzug mit einer SE sei bereits in drei bis fünf Monaten zu bewerkstelligen.
Eine dritte Variante wäre eine grenzüberschreitende Sitzverlegung ohne eine entsprechende juristische Richtlinie. Obwohl diese noch in Arbeit ist, gab es schon solche Fälle. Die Rechtsanwälte sehen diese Variante aber eher kritisch: "Das ist eine unsicherere Variante. Zum einen, weil nicht ganz klar ist, was zulässig ist und was nicht. Zum anderen aber, weil noch unklar ist, nach welchem Verfahren es läuft. Es fehlen einfach die gesetzlichen Vorgaben."
Großbritannien und die Europäische Union betreten unsicheres Neuland. Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich nicht einmal sagen, ob London nicht doch noch einen Last-Minute-Rückzieher macht. Bis zur Austrittserklärung könnte der Brexit theoretisch abgeblasen werden - allerdings würde die Regierung dann den Willen des britischen Volkes missachten. Nach der Austrittserklärung lässt sich das Prozedere nach Artikel 50 kaum mehr stoppen. Denn der Artikel sieht vor, dass die Mitgliedschaft auch ohne Austrittsvereinbarung abrupt endet, wenn die Verhandlungsfrist abgelaufen ist. Unternehmen müssen also bis zum Schluss mit allem rechnen und flexibel bleiben.
Quelle: ntv.de