"RWE tut nichts Illegales" Klimakläger bringen deutsche Justiz in Schieflage
05.10.2023, 14:52 Uhr Artikel anhören
"Das Problem ist bei RWE und auch bei Shell die Unterlassung", sagt Heiko Haller im "Klima-Labor".
(Foto: picture alliance / Guido Kirchner/dpa)
Ein peruanischer Bauer verklagt RWE, junge US-Bürger den Bundesstaat Montana, Kalifornien knöpft sich die großen Ölkonzerne vor, sechs junge Portugiesen ganz Europa: Klimaschutz wird immer häufiger vor Gericht entschieden. Laut den Vereinten Nationen stieg die Zahl der Klimaklagen 2022 weltweit auf 2200, 2017 waren es noch weniger als 900. "Das machen die 'Klimakläger' sehr geschickt", lobt Heiko Haller von der Kanzlei Baker McKenzie im "Klima-Labor" von ntv.de. Der Jurist hält die meisten Klagen allerdings für nicht gerechtfertigt, denn die Unternehmen tun nichts Illegales: "Was würden Sie denn sagen, wenn ich Sie verklage und verlange, dass Sie nicht mehr mit dem Auto ins Büro fahren dürfen?", fragt der Prozessanwalt, denn "es wäre für das Klima besser, wenn Sie laufen". Die Konsequenzen können Haller zufolge dramatisch sein: Betroffene Unternehmen wie RWE und Shell müssten aus einem Teil ihres Geschäfts aussteigen, nicht verklagte Konzerne wie BP aber nicht.
ntv.de: Montana, die großen Ölkonzerne und RWE werden verklagt, aber die bekanntesten Klimaverfahren richten sich aktuell wahrscheinlich gegen die Aktivistinnen und Aktivisten der Letzten Generation. Wie ordnen Sie diese Entwicklung ein?
Heiko Haller: Aktion schafft Reaktion. Zuletzt war die Klage in Montana medial sehr präsent. Vor ein paar Jahren war es die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Das machen die Klimakläger, wenn man sie so nennen kann, auch jenseits des Juristischen sehr geschickt. Sie schaffen Aufmerksamkeit, platzieren die Klagen strategisch gut, zum Beispiel gegen Autohersteller zu Beginn der Internationalen Automobilausstellung (IAA). Zusätzlich gibt es die Aktionen der Aktivistinnen und Aktivisten. Mit denen kann man sich inhaltlich auseinanderzusetzen - oder schauen, wo Grenzen überschritten werden, und dann als Reaktion Ansprüche geltend machen.
Die Verfahren gegen die Letzte Generation sind eine gesteuerte Gegenreaktion?
Ich glaube nicht, dass sie gesteuert sind, dafür sind juristisch zu viele Ebenen im Spiel. Es ist ja nicht nur die Bundesregierung, die etwas tun kann. Das können auch Städte, Länder oder Unternehmen sein, die sich wehren. Die Stimmung ist derzeit aufgekocht, aber der spannende Teil liegt eigentlich woanders.
Wo denn?
In den Klagen gegen Unternehmen, Staaten oder Regierungen ist für Juristen, aber auch Unternehmen viel mehr Musik drin. Denn wenn sie die Ansprüche gegen Mercedes, BMW oder VW juristisch nüchtern durchdeklinieren, ist nichts dran. Die Unternehmen tun nichts Illegales. Sie bewegen sich innerhalb geltenden Rechts, werden aber trotzdem in Anspruch genommen. Schauen Sie sich die Präzedenzfälle an: Bei Shell in den Niederlanden hätte keiner mit einer Niederlage gerechnet. Im Fall von RWE gegen einen peruanischen Bauern hat das Oberlandesgericht Hamm die Beweisaufnahme angeordnet. Das sind juristisch eigentlich winzige Risiken, aber wenn sie sich realisieren, haben sie dramatische Auswirkungen. Das ist das Spannende.
Die Unternehmen haben diese Klagen gar nicht als gefährlich wahrgenommen, aber stellen gerade durch Urteile wie vom Bundesverfassungsgericht fest, dass ihnen möglicherweise gewaltiger Ärger droht?
Ja und nein. Der Präzedenzfall des Bundesverfassungsgerichts ist sicherlich interessant, weil es in einem neuen Bereich aktiv wurde. Denn historisch gesehen ist das Grundgesetz auf die Abwehr staatlicher Eingriffe ausgerichtet. Hier aber ging es darum, dass man etwas vom Staat möchte, nämlich sehr vereinfacht und juristisch nicht ganz präzise gesagt: besseren Klimaschutz. Der wurde eingeklagt. Das ist aus den Schutzpflichten des Grundgesetzes aber nicht so einfach abzuleiten, und in jedem Fall sind Unternehmen der falsche Adressat dafür, denn die bewegen sich in dem Rahmen, den der Staat gesetzt hat. Der Gesetzgeber legt fest, wie viel Klimaschutz wir in Deutschland oder der EU bekommen.
Unternehmen wie RWE sind überrascht davon, dass ein peruanischer Bauer anders als früher plötzlich einen Rechtsanspruch ihnen gegenüber haben soll?
Das gab es bislang tatsächlich so nicht. Wenn sie sich die Zahlen der Vereinten Nationen anschauen, gab es im vergangenen Jahr 2200 Klimaklagen; 2017 waren es 900. Das ist ein signifikanter Anstieg. Ich muss sagen, an RWEs Stelle wäre ich von der gerichtlichen Entscheidung, in eine Beweisaufnahme einzutreten, auch überrascht gewesen.
Wie ist diese Entwicklung denn zustande gekommen? Im Fall von RWE sagt der Bauer: RWE hat durch den Kohleabbau und andere fossile Energien einen bestimmten Anteil der Erderwärmung zu verantworten. Deswegen kann ich nicht mehr anbauen, was ich normalerweise angebaut hätte. Diesen Schaden möchte ich von RWE ersetzt bekommen.
So wäre der Rechtsstreit schnell beendet, denn für den Bauern mag es um viel Geld gehen, für RWE insoweit aber sicherlich nicht. Das Problem ist bei RWE und auch bei Shell die Unterlassung: Wenn ich bestimmte Emissionen nicht überschreiten darf, muss ich möglicherweise einen Großteil meines Geschäfts aufgeben. Das wäre fatal.
Wenn der peruanische Bauer gewinnt, ist das komplette Geschäft von RWE bedroht?
Das komplette nicht, aber ein großer Teil: Alles, was auf fossilen Energieträgern beruht, ist betroffen.
Als Bürger oder Bürgerin findet man das vielleicht toll, wenn klimaschädliche Aktivitäten auf diese Weise verboten werden, für unser Rechtssystem wäre das ein Problem, weil die Verantwortungen vom Staat auf Unternehmen verschoben werden?
Dieses Interview ist eigentlich ein Podcast, den Sie auch anhören können.
Wo? Sie finden das "Klima-Labor" bei RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts, Spotify und als RSS-Feed. Klicken Sie einfach die Links an.
Sie haben eine Frage? Schreiben Sie uns eine E-Mail an klimalabor@ntv.de.
Es werden Verantwortung und Kompetenzen verschoben. Im Kern geht es nicht um Verhältnis von Bauer zu RWE, sondern um Rechtsetzung: Steige ich als Bundesrepublik Deutschland aus Kohle oder Kernenergie aus? Das müssen legitimierte Organe wie der Bundestag entscheiden. Im Zivilprozess geht es darum, ob RWE und Shell aussteigen müssen, BP aber bisher nicht, denn das Unternehmen wird nicht verklagt.
Auch wenn ein Urteil fallen würde, das RWE das Kohlegeschäft verbieten würde, könnten andere Kohlekonzerne in Deutschland weitermachen?
Rechtlich dürften sie es, denn das Urteil wirkt nur zwischen den Parteien, die Teil des Prozesses sind. Aber faktisch hätte das sicherlich Auswirkungen.
Muss man den Gerichten deswegen einen Vorwurf machen? Ist das ein Fehler im deutschen Justizsystem?
Das ist kein Fehler im Justizsystem. Der Staat muss allerdings darauf achten, dass die hier diskutierten Fragen nicht im bilateral ausgetragenen Zivilprozess, sondern vom Gesetzgeber entschieden werden. Was würden Sie denn sagen, wenn ich Sie verklage und verlange, dass Sie nicht mehr mit dem Auto ins Büro fahren dürfen? Das dürfen Sie, obwohl die Gefahr besteht, dass Sie einen Unfall bauen. Es wäre auch für das Klima besser, wenn Sie laufen. Aber der Gesetzgeber hat das Autofahren erlaubt. Das kann ich Ihnen nicht untersagen. Sie sehen, wie schief die Lage ist.
Welche Konsequenzen sind denn zu erwarten, wenn Gerichte juristisch unsaubere Klagen zulassen und solche Urteile fällen?
Unternehmen müssen sich strategisch aufstellen - abhängig von der Branche sicherlich mit unterschiedlicher Motivation: RWE oder Autobauer sind gefährdeter als andere.
"Strategisch aufstellen" bedeutet, dass sie mehr Anwälte einstellen?
So weit würde ich nicht gehen, aber sie müssen sich Gedanken machen. Ich würde Unternehmen raten, die Sachdiskussion zu meiden. Die können sie vielleicht vor Gericht gewinnen, aber wichtiger ist die öffentliche Meinung, denn natürlich haben sie einen CO2-Ausstoß. Wenn Sie das Thema stattdessen rechtlich diskutieren und auf die Unterschiede zwischen Zivilrecht und öffentlichem Recht ausweichen, hört keiner mehr zu. Genau das wollen Sie: Es soll keiner zuhören, das öffentliche Interesse soll sinken. Und Sie wollen deutlich machen, dass es hier um eine Frage für den Gesetzgeber geht.
Das ist ihre Empfehlung?
Ja. Ich nenne das die Judo-Strategie: Weichen Sie dem Angriff aus und lenken die Aufmerksamkeit auf den Staat. Dort gehören diese Fragen hin.
Mit Heiko Hallersprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das komplette Gespräch können Sie sich im Podcast "Klima-Labor" anhören.
Was hilft wirklich gegen den Klimawandel? Funktioniert Klimaschutz auch ohne Job-Abbau und wütende Bevölkerung? Das "Klima-Labor" ist der ntv-Podcast, in dem Clara Pfeffer und Christian Herrmann Ideen, Lösungen und Behauptungen der unterschiedlichsten Akteure auf Herz und Nieren prüfen.
Ist Deutschland ein Strombettler? Rechnen wir uns die Energiewende schön? Vernichten erneuerbare Energien Arbeitsplätze oder schaffen sie welche? Warum wählen Städte wie Gartz die AfD - und gleichzeitig einen jungen Windkraft-Bürgermeister?
Das Klima-Labor von ntv: Jeden Donnerstag eine halbe Stunde, die informiert, Spaß macht und aufräumt. Bei ntv und überall, wo es Podcasts gibt: RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts, Spotify, RSS-Feed
Sie haben Fragen an uns? Schreiben Sie eine E-Mail an klimalabor@ntv.de.
Quelle: ntv.de