Wirtschaft

Phönix aus der Asche? Türkisches Wirtschaftswunder weckt Zweifel

Noch sind diese Liegen in der Nähe von Antalya leer, doch langsam kehren die Touristen in die Türkei zurück.

Noch sind diese Liegen in der Nähe von Antalya leer, doch langsam kehren die Touristen in die Türkei zurück.

(Foto: imago/ZUMA Press)

Das hat kaum jemand erwartet: Trotz Terror, Putsch und Streit mit Europa wächst die türkische Wirtschaft derzeit noch schneller als zu stabileren Zeiten. Experten zweifeln allerdings an den schönen Zahlen.

Manche hatten sie bereits fast für tot oder zumindest schwer angeschlagen erklärt: Die türkische Wirtschaft. Außenminister Sigmar Gabriel und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz raten sogar von Reisen in die Türkei ab, das Auswärtige Amt hat die Sicherheitshinweise verschärft. Touristen fürchten sich ohnehin vor islamistischem Terror. Im Verhältnis mit der EU kriselt es, deutsche Politiker fordern gar ein Ende der Beitrittsgespräche und Wirtschaftssanktionen.

Angesichts dieser Spannungen verblüfft das türkische Statistikamt Turkstat mit erstaunlich guten Zahlen. Demnach hat die Wirtschaft im zweiten Quartal 2017 um 5,1 Prozent zugelegt. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 war die türkische Wirtschaft stark geschrumpft. Nun wächst sie sogar noch schneller als vor dem Putschversuch.

Vor allem mit staatlichen Investitionen hat Präsident Recep Tayyip Erdogan die erlahmte Wirtschaft angekurbelt. Er erhöhte zum Beispiel Kreditgarantien von 20 Milliarden auf 250 Milliarden Lira (64 Milliarden Euro), um vor allem kleine und mittelständische Unternehmen abzusichern. Diese Maßnahme hält der Ökonom und Türkei-Experte Wolf-Fabian Hungerland jedoch für problematisch. "Die türkischen Staatsfinanzen waren im Vergleich zu anderen Schwellenländern immer relativ solide. Wenn sich die Regierung nun zunehmend das Kreditrisiko des Mittelstands auf die eigene Bilanz lädt, kann sich das negativ auf die Stimmung der Investoren auswirken."

Auch dem Tourismussektor gab die Regierung finanziellen Anschub.  Noch bis Ende des Jahres erhalten etwa Flieger in Feriengebieten wie Antalya und Izmir 6000 Dollar Kerosin-Zuschuss. Vor allem aber sorgt die Rückkehr der russischen Urlauber für Aufschwung. Nachdem im November 2015 türkische Kampfflugzeuge einen russischen Militärjet im syrischen Grenzgebiet abgeschossen hatten, strich Präsident Wladimir Putin das Land für sieben Monate aus allen russischen Urlaubskatalogen. Durch den Boykott kamen 2016 anstatt der sonst rund vier Millionen bloß knapp 900.000 Besucher aus Russland. Nach dem Ende der Urlaubssperre strömen die Russen nun wieder in die Türkei.

Auch die Deutschen kehren zurück. Zwar sind es bislang nur ein Teil der in den Jahren vor dem Putschversuch rund fünf Millionen deutschen Urlauber. Doch von Januar bis Juli 2017 ließen sich zumindest 1,9 Millionen Deutsche nicht von den Warnungen der Politiker abschrecken.

Investoren flüchten vor politischen Spannungen

Es sind vielmehr ausländische Investoren, die vor den politischen Spannungen flüchten. "Wenn ich als Investor nicht weiß, ob ich überhaupt noch einreisen und meine Fabrik besichtigen kann, dann ist das natürlich problematisch", sagt Hungerland. Dies zeigt sich auch in der Statistik: Direktinvestitionen aus dem Ausland sind um acht Prozent gefallen. Dabei sind gerade diese langfristigen Investitionen für die Entwicklung der Türkei besonders wichtig. Sie bringen neue Technologie und Arbeitsplätze und sorgen somit für qualitativ hochwertiges Wachstum.

Experten haben jedoch Zweifel, ob es der türkischen Wirtschaft wirklich so gut geht, wie offiziell dargestellt wird. In einem Report der Commerzbank mit dem Titel "Turkey - Are you kidding me?" bezweifelt Experte Lutz Karpowitz die Richtigkeit der neuesten Daten. Die Angaben seien "mehr als fragwürdig" und könnten "politisch beeinflusst" sein.

Auch Hungerland traut den Wachstumszahlen nicht. Ende letzten Jahres habe das türkische Statistikamt seine Messweise stark verändert. Vor allem der Bausektor habe in der Rechnung eine viel größere Bedeutung bekommen. Hier habe der Staat viel investiert und mit der hohen Gewichtung in der Statistik für die bombastischen Wachstumszahlen gesorgt.  

Hungerland erklärt: "Ein sehr großer Teil des türkischen Wirtschaftswachstums wird wieder direkt durch Staatsausgaben getrieben. Außerdem ist die Baubranche sehr saisonal. Zusammengefasst ist dieses Wachstum qualitativ minderwertiger als noch vor zehn Jahren."

"Eine ziemlich problematische Perspektive"

Um nachhaltig zu wachsen, müsste die Türkei mit diesem Geld stattdessen etwa die Ausbildung im Land verbessern. "Auch wenn Erdogan dafür gesorgt hat, dass in den letzten zehn Jahren viele Universitäten gebaut wurden, mangelt es noch oft an der Qualität der Ausbildung", so Hungerland. Außerdem hält ein konservatives Rollenbild viele Frauen vom Arbeitsmarkt fern. Nur ein Drittel der Türkinnen sind laut Eurostat berufstätig.

Doch der wichtigste Faktor, der das gesunde Wachstum blockiert, sei nach wie vor die politische Anspannung im Land. Versöhnliche Töne des Staatschefs würden hier helfen, doch dies scheint angesichts der jüngsten Festnahmen in der Türkei sehr unwahrscheinlich. Hungerlands Zukunftsprognose fällt daher pessimistisch aus: "Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Wachstumszahlen langsam aber sicher abnehmen werden." Der türkische Präsident könnte bis 2028, nach der Verfassungsreform gar bis 2034 an der Macht bleiben. "Das ist eine ziemlich problematische Perspektive, wenn Erdogan dann fast 30 Jahre an der Macht war. Da braucht man kein Volkswirt sein, um zu wissen, dass am Ende seiner Amtszeit viel Muff übrig bleibt."

Quelle: ntv.de

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