Deindustrialisierung läuft Vertreibt die Energiekrise die deutsche Autoindustrie?
30.10.2022, 11:58 Uhr
Bedroht die Energiekrise den Autostandort Deutschland? Helmut Becker bezieht dazu klar Stellung.
(Foto: picture alliance / dpa)
Die deutsche Automobilindustrie hat harte Jahre hinter sich: Corona-Krise, Chipmangel, Probleme mit den Lieferketten - und dazu noch der Strukturwandel hin zur Elektromobilität. Doch es kommt noch dicker - mit der Energiekrise. Ist dadurch der Autostandort Deutschland bedroht?
Für die deutsche Autoindustrie, vor allem die vielen kleinen und mittleren Zulieferunternehmen, waren die letzten Jahre nicht vergnügungssteuerpflichtig. Erst kam die Corona-Pandemie mit weltweiten Absatzeinbrüchen, danach die globale Chipkrise mit erzwungenen Werkstillegungen und ausgedünntem Modell- und Ausstattungsprogramm - und schließlich der russische Krieg gegen die Ukraine inklusive Sanktionen des Westens gegen das Moskauer Regime. Aber auch damit hatten die Belastungen noch kein Ende, denn die Preise für Erdgas, Rohöl und Strom explodierten.
Vor allem die Energiekrise brachte die hohe Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von Gas- und Rohstoffimporten schonungslos ins Bewusstsein. Und ließ über Nacht Zweifel an der Qualität des Wirtschaftsstandorts Deutschland aufkommen. So äußerte der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, seine Sorgen, dass es aktuell "um nichts weniger (geht), als das Überleben der Industrie in Deutschland und Europa zu sichern". Vertreter der Deutschen Bank sekundierten mit düsteren Visionen: "Wenn wir in … zehn Jahren auf die gegenwärtige Energiekrise zurückblicken werden, könnten wir diese Zeit als Ausgangspunkt für eine beschleunigte Deindustrialisierung in Deutschland betrachten."
Ist Deutschlands Deindustrialisierung eingeläutet?
Und damit ist das böse Stichwort gefallen: Deindustrialisierung. RWE plant große Investitionen in den USA, stark energieintensive Traditionsunternehmen wie Hakle gehen in Konkurs, Glaswaren- und Kunststoffhersteller kämpfen um die Existenz, große Teile des Handwerks, Bäcker und Gastwirte ebenso. Befindet sich Deutschland am Beginn einer Phase der Deindustrialisierung? Ist der Abstieg vom Wohlstandsgipfel schon eingeläutet - und niemand hat es bemerkt? Und welche Rolle spielt dabei die Automobilindustrie, Paradebranche und Motor der deutschen Wirtschaft? Hier werden immerhin in Summe über alles 20 Prozent des deutschen Bruttoinlandsproduktes (BIP) und rund 10 Prozent der industriellen Wertschöpfung erwirtschaftet. So wie im früheren Jahrzehnten Europa die Grippe bekam, wenn die USA den Schnupfen hatten, so ähnlich wirkt heute eine Krise in der Autoindustrie auf die deutsche Volkswirtschaft. Die Rezession im Jahr 2008 ist Beleg dafür.
Von BMW verlautete vor Kurzem, dass das Unternehmen in den USA seinen Standort Spartanburg (South Carolina) mit 1,7 Milliarden US-Dollar massiv zur Herstellung von Batterien wie neuer Elektromodelle ausbauen will. Bis 2030 sollen sechs vollelektrische BMW-Modelle in Spartanburg vom Band laufen. Ist das der Beginn der Abwanderung der deutschen Autoindustrie und einer schleichenden Deindustrialisierung als Folge der Energiekrise?
Wohlstandsbremse Deindustrialisierung
Deindustrialisierung einer Volkswirtschaft war im früheren Sprachgebrauch ein positiver Vorgang. Er beschrieb die Verschiebung der Wertschöpfungsanteile der einzelnen Wirtschaftssektoren zulasten der Industrie und zugunsten des Dienstleistungssektors. Diese Verschiebung war positiv und galt als Indikator für den wachsenden Wohlstand einer Volkswirtschaft. Vereinfach ausgedrückt: Alle Sektoren wuchsen, die Industrie war aber auch bei geringerem Wachstum so produktiv, dass man sich mehr Dienstleistungen gönnen konnte. Zum Vergleich: In den USA ist der Anteil der industriellen Wertschöpfung von ehemals 40 inzwischen auf rund 10 Prozent des BIP gesunken, in Deutschland beträgt er noch rund 30 Prozent.
Heute wird Deindustrialisierung negativ als Wohlstandsbremse verstanden, wenn von den längerfristigen Folgen der Energiekrise die Rede ist. Aktuell geht die Furcht um, der industrielle Sektor würde absolut schrumpfen, entweder, weil energieintensive Unternehmen intern ihre Produktion in energiekostengünstigere Auslandswerke umschichten oder weil sie abwandern und den Standort Deutschland aufgeben oder gar in Konkurs gehen. Der gesamte Dienstleistungsbereich wäre davon zwangsläufig ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen.
Problemfaktor Zulieferer
Hinsichtlich der Auswirkungen der Energiekrise ist die Autobranche in doppelter Hinsicht gespalten. Zum einen klaffen bei der Energiekostenbelastung in der Produktion große Unterschiede zwischen Herstellern und Zulieferern. Bei den Herstellern ist der Kostenanteil von Prozessenergie an den Gesamtkosten vergleichsweise gering (und verkraftbar). Anders bei den kleinen und mittleren Zulieferern mit eher kleinteiligen Produktions-Losgrößen und/oder einem wesentlich höheren Produktions- und Inputanteil von Chemieprodukten und Kunststoffen. Da ihnen vielfach eine Kostenweitergabe an die Hersteller nicht möglich ist, bleibt nur die Verlagerung ins Ausland oder Konkurs.
Im Gegensatz dazu sind die Autohersteller von der Energiepreisexplosion vor allem auf der Absatzseite getroffen. Die deutsche Wirtschaft ist nach allgemeiner Auffassung auf dem Weg in eine heftige Rezession, die Inflationsraten liegen mit zehn Prozent so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr, die Realeinkommen der Verbraucher schrumpfen deutlich.
Der Autoabsatz in Deutschland wird davon empfindlich getroffen, anstatt des erhofften Marktwachstums dürfte 2023 ein erneuter Rückgang der Verkäufe um bis zu zehn Prozent wahrscheinlich sein. Getroffen davon sind alle: in- wie ausländische Hersteller.
Da hilft den Autobauern auch keine Produktionsverlagerung ins Ausland, da dort vielfach die Absatzsituation krisenbedingt ebenfalls angespannt ist. Die Gefahr der Abwanderung aufgrund der hohen Energiekosten ist also in der Autobranche so nicht gegeben, ebenso wenig beim Bäcker um die Ecke - in der Chemie ist das völlig anders.
Die geplante 1,7-Milliarden-Dollar-Investition von BMW in Spartanburg ist also nicht energiekosteninduziert und der Beginn eines Exodus aus Deutschland. Dazu Konzernchef Oliver Zipse: "Wir verfolgen konsequent unseren Grundsatz 'local für local'. Unsere neu entwickelten Batteriezellen der sechsten Generation beziehen wir hier aus South Carolina - wo das X elektrisch wird." Es erfolgt also ein strategischer Zubau in USA, kein krisenbedingter Abbau in Deutschland.
Re- statt Deindustrialisierung
Sinngemäß ähnlich, aber aus anderem Blickwinkel äußerte sich der französische Präsident Emmanuel Macron beim jüngsten Besuch des Pariser Autosalons. Macron möchte sein Land im Zuge der Umstellung auf Elektroautos wieder zu einer großen Autonation machen. Das Ziel sei, ab 2030 jährlich zwei Millionen Elektroautos in Frankreich zu produzieren, "um aus Frankreich wieder ein großes Automobilland der Zukunft zu machen". Es sei wichtig, "wieder eine französische Produktion zu haben - zur Reindustrialisierung des Landes, für das Klima und für Frankreichs Unabhängigkeit".
In Frankreich ist Reindustrialisierung angesagt. Die deutsche Autoindustrie hat es da ungleich leichter: Sie muss trotz Energiekrise den heimischen Standort nur verteidigen. Das erscheint durchaus machbar.
Quelle: ntv.de