Vor dem Brexit-Gipfel der EU Wer zuerst zuckt, verliert
16.10.2017, 17:50 Uhr
Was hat Premierministerin Theresa May im Gepäck, wenn sie nach Brüssel kommt?
(Foto: picture alliance / Stefan Rousse)
Im Brexit-Dauerstreit mit Großbritannien gibt sich die EU knallhart: London soll die Rechnung zahlen, dann wird über die künftigen Beziehungen gesprochen. Premierministerin May kämpft um Entgegenkommen. Alle zeigen ihr Pokerface.
Auch nach fünf Verhandlungsrunden gibt es keine nennenswerten Fortschritte bei den Brexit-Verhandlungen. Premierministerin Theresa May setzt jetzt alles daran, bereits vor dem EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag, an dem der EU-Austritt zum sechsten Mal Thema ist, Bewegung in die festgefahrenen Gespräche zu bringen. Schon Tage vorher eilt sie dafür mit Brexit-Minister David Davis nach Brüssel, um die Lage zu sondieren. Am Abend ist ein gemeinsames Abendessen mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und dem EU-Chefunterhändler Michel Barnier geplant. Ob May irgendetwas im Gepäck hat, was die beiden Herren zu Zugeständnissen bewegen könnte, ist offen.
Beim EU-Gipfel steht viel auf dem Spiel, aber die Erwartungen sind inzwischen denkbar niedrig. Die britische Regierung hat sich tief in eine Sackgasse manövriert. Auch wenn Barnier kürzlich die Gespräche noch diplomatisch als "konstruktiv" bezeichnete, will er dem EU-Gipfel nicht empfehlen, die zweite Phase der Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien einzuleiten. Ohne finanzielle Zusagen aus London für alte Pflichten könne man nicht über die künftige Partnerschaft reden, ließ er wissen.
Der "Feind" in Brüssel
Nicht nur die Kluft zwischen EU und London ist tief. Auch die britische Regierung verliert sich zunehmend in Grabenkämpfen, wie der Brexit ablaufen soll. Die Zeit zwischen dem EU-Austritt und dem Ende der Mitgliedschaft im März 2019 war von Anfang an knapp bemessen. Sechs Monate sind inzwischen vergangen, ohne dass die notwendigen Meilensteine in den Scheidungsverhandlungen erreicht worden wären.
Nachdem die Tories ihre Mehrheit bei der Wahlpleite im Juli verloren haben, blockiert die Partei sich selbst. "Die konservative Partei ist tief gespalten: Auf der einen Seite die harten Brexit-Befürworter, die jedes Zugeständnis ablehnen. Und auf der anderen Seite diejenigen, die jetzt kalte Füße kriegen und denen dämmert, was jetzt passiert," sagt der Politikwissenschaftler Stefan Schieren von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt n-tv.de.
Wie sehr die Nerven in London blank liegen, zeigt deutlich der Fauxpas des britischen Schatzkanzlers Philip Hammond, der kürzlich seine Landsleute in einem Interview mit SkyNews zur Einheit aufrief. Der "Feind" und "Widersacher", sitze auf der anderen Seite des Verhandlungstisches, mahnte der Finanzminister. Kurz darauf bedauerte er die "schlechte Wortwahl". Hammond gilt als Verfechter eines "weichen Brexit" mit möglichst enger Bindung an die EU. In den Medien gilt er als angezählt.
Dass May etwas im Gepäck hat, das die Verhandlungen voranbringen könnte, hält Schieren für unwahrscheinlich. Allein die Tatsache, dass sie mit Hardliner David Davis anreise, lasse vermuten, dass es nicht genug sein werde. Der Brexit-Minister hat bislang keine Erfolge vorzuweisen. Zudem sei er selbst einer von mehreren Kontrahenten um den Parteivorsitz. "Ich habe den Eindruck, dass es sich um den verzweifelten Versuch einer Premierministerin auf Abruf handelt," sagt der Politikwissenschafter.
Bewegung ist theoretisch möglich
EU-Ratspräsident Donald Tusk hat angeblich ein Positionspapier vorbereitet, in dem sich die EU-Staaten auf einen Brexit ohne Verhandlungsergebnis vorbereiten. Fortschritte bei den Brexit-Verhandlungen sind nur noch denkbar, wenn die eine oder andere Seite ihre Strategie aufweicht. Keine Seite wünscht sich den harten Brexit - die Voraussetzungen sind insofern günstig. Gerüchtehalber will die EU den Briten entgegenkommen, um die stockenden Verhandlungen wieder in Gang zu bringen.
Es wäre ungewöhnlich, wenn diese B-Pläne nicht in den Schubladen liegen würden, sagt Schieren. Hoffen dürfte man noch. "Der Kompromiss könnte ein Gesamtpaket sein. Doch derjenige, der Bereitschaft zeigt, eine Einigung zu erzielen, läuft Gefahr nicht mehr den Preis einzustreichen, den er bekommen wollte," sagt er. Die Chancen auf einen Kompromiss stünden deshalb dennoch schlecht. "Das Problem ist, dass keine der beiden Seiten die Karten zu schnell auf den Tisch legen möchte."
Brüssel beharrt darauf, dass London alle eingegangenen finanziellen Verpflichtungen aus der EU-Mitgliedschaft erfüllt. Als Summe wird ein Betrag zwischen 60 und 100 Milliarden Euro genannt. Die Regierung in London versucht diese Brexit-Rechnung zu verschleppen, indem sie sich hinter einer grundsätzlichen Absichtserklärung verschanzt. Brüssel ist das jedoch nicht genug. Auch bei den beiden anderen großen Knackpunkten, die künftigen Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien und die Grenze zu Nordirland, gibt es kein Vorankommen. Erst wenn es "ausreichende Fortschritte" in diesen Bereichen gibt, will die EU mit London auch über das künftige Verhältnis und ein mögliches Handelsabkommen sprechen.
Solange beide Seiten auf ihren Positionen beharren, gibt es nur drei Möglichkeiten: Entweder die konservative Regierung in London scheitert und es kommt zu Neuwahlen. Oder die EU und Großbritannien gehen am 30. März 2019 ohne Einigung auseinander - mit allen Verwerfungen, die daraus resultieren. Es sei denn, alle EU-Staaten stimmen dafür, die Zweijahresfrist für den Brexit zu verlängern. Die unausgesprochene Frage, die heute Abend am Tisch über May, Davis, Juncker und Barnier schwebt, ist deshalb dieselbe wie in den kommenden Monaten: Wer zuckt zuerst?
Quelle: ntv.de