Wirtschaft

Mehrheit will zurück in die EU Wirtschaftliche Misere lässt Briten an Brexit zweifeln

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Die britische Regierung hat ihr Lohnangebot für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst aufgestockt, um Streiks zu beenden. Kritiker warnen vor einem zusätzlichen Anheizen der hohen Inflation und einer Verschlimmerung des Arbeitskräftemangels..

Die britische Regierung hat ihr Lohnangebot für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst aufgestockt, um Streiks zu beenden. Kritiker warnen vor einem zusätzlichen Anheizen der hohen Inflation und einer Verschlimmerung des Arbeitskräftemangels..

(Foto: picture alliance / NurPhoto)

Sieben Jahre nach dem Brexit-Referendum hat der größere Teil der Briten die Nase offenbar voll. Die Wirtschaft schwächelt, die Inflation ist hoch. Versuche, die Uhren zurückzudrehen, erweisen sich als schwierig.

Mehr als die Hälfte der Briten würden im Fall eines neuen Referendums für eine Rückkehr Großbritanniens in die Europäische Union stimmen. Das ergab eine aktuelle Umfrage des britischen Marktforschungsinstituts Yougov. Demnach würden 51 Prozent der Befragten dafür stimmen. Im Vergleich zu Januar 2021, als sich Großbritannien nach dem Brexit-Referendum im Juni 2016 aus der EU verabschiedete, entspricht das einer Steigerung um elf Prozentpunkte. Die Zahlen bestätigen die jüngsten Umfrage-Ergebnissse des Tony-Blair-Instituts. Insgesamt zeigen die Daten, wie sehr die Stimmung in der Bevölkerung innerhalb von sieben Jahren gekippt ist.

Rund 57 Prozent der Briten gaben laut Yougov an, dass die Entscheidung, aus der EU auszutreten, falsch gewesen sei. Das ist der höchste Wert, den das Meinungsforschungsinstitut bei dieser Umfrage jemals verzeichnet hat. Jeder fünfte britische Wähler, der damals pro EU-Austritt war, räumt heute ein, dass seine Entscheidung falsch gewesen sei. Nur noch 32 Prozent halten die Entscheidung aktuell für richtig.

Die Verfechter des EU-Austritts hatten sich nach dem Brexit viel für die heimische Wirtschaft versprochen. Drei Jahre nach dem endgültigen Austritt fällt die Erfolgsbilanz jedoch mager aus. Statt durch die Loslösung von Brüssel in den Genuss großer finanzieller Vorteile zu kommen, kämpft das Königreich mit einer anhaltend hohen Inflation und mit Lieferkettenschwierigkeiten. Erst fehlten die Lastwagenfahrer, dann Eier, dann die Tomaten. Dann ging den Tankstellen der Sprit aus. Brexit-Einschränkungen für Wanderarbeiter bringen die Insel immer wieder an ihre Belastungsgrenze.

Auch Abkommen zu schließen, die die Verluste im Handel mit der EU wettmachen, gelang London nicht. Ein in Aussicht gestelltes lukratives Handelsabkommen beispielsweise mit den USA, mit dem die sogenannten Brexiteers geworben hatten, kam nicht zustande.

Zum dritten Jahrestag des Brexits fasste die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) die Bilanz des EU-Austritts als "wirtschaftliches Desaster" für Großbritannien und die EU zusammen. Während Großbritannien im Jahr 2016 noch drittwichtigster Exportmarkt Deutschlands war, ist das Land im Jahr 2022 auf Platz acht abgerutscht. 2023 könnte das Land laut der bundeseigenen Gesellschaft Germany Trade and Invest (GTAI) sogar erstmals in der jüngeren Geschichte aus den Top Ten der deutschen Handelspartner fallen.

Bis zu 30 Prozent weniger Investitionen

Die Inflationsrate verharrte zuletzt bei 8,7 Prozent, das ist der höchste Wert unter den großen westlichen Industrieländern. Der Leitzins wurde mittlerweile auf fünf Prozent hochgeschraubt, was Kredite für Investitionen und Konsum verteuert und damit die Konjunktur belastet. "Als Folge des Verlassens der EU haben viele Unternehmen ihre Investitionspläne in Großbritannien zurückgestellt", sagte der Chefökonom der Berenberg Bank, Holger Schmieding, jüngst im Deutschlandfunk. Sie seien "25 bis 30 Prozent niedriger, als wenn der Trend sich von vor dem Brexit fortgesetzt hätte". Weniger Unternehmensinvestitionen heiße, "weniger Maschinen im Einsatz und weniger Produktivität. Weniger Produktivität bedeutet für Unternehmen höhere Kosten und für Verbraucher höhere Preise". Die EU leide insgesamt unter der "Putin-Inflation" infolge des Ukraine-Kriegs. Die hohe Inflation in Großbritannien habe aber auch mit dem Brexit zu tun.

Die konservative Regierung unter Premier Rishi Sunak, die daran festhält, dass der Brexit Vorteile bringe, ringt um Lösungen. Vor einer Woche gab Sunak wenige Stunden vor einem angekündigten fünftägigen Streik von Lehrern, Polizisten und Ärzten nach und beschwichtigte die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit der Zusage von Gehaltserhöhungen für Millionen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes. Laut der britischen Nachrichtenagentur PA wäre es der längste Ausstand in der Geschichte des schwer angeschlagenen Nationalen Gesundheitsdiensts (NHS) gewesen.

Wie die Ausgaben finanziert werden sollen, ist umstritten. Sunak kündigte an, weder neue Schulden aufnehmen, noch Steuern erhöhen zu wollen. Stattdessen sollen Gebühren erhöht werden, die Menschen aus anderen Staaten zahlen müssen, wenn sie ein Visum für das Vereinigte Königreich bekommen wollen.

Der Verband der fleischverarbeitenden Industrie in Großbritannien warnt vor solchen Plänen. Höhere Visa-Gebühren und Beiträge zum Gesundheitsdienst des Landes würden den Arbeitskräftemangel und die Inflation in Großbritannien zusätzlich verschlimmern, warnte die BMPA (British Meat Processors Association). Die Katerstimmung wird den britischen Bürgern auf absehbare Zeit erhalten bleiben. Ein erneutes Referendum ist nicht in Sicht.

Quelle: ntv.de, ddi

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