Die Super-Recogniser Nie ein Gesicht vergessen - wie geht das?
29.10.2016, 19:10 Uhr
Überwachungsvideo-Aufzeichnung der Polizei mit Bankräubern: Dass es Leute gibt, die ein Gesicht nicht vergessen oder auch auf unscharfen Fotos Personen wiedererkennen, weiß die Wissenschaft erst seit wenigen Jahren.
(Foto: picture alliance / dpa)
Die Fähigkeit, sich Gesichter besonders gut zu merken - das klingt fast wie die Superkraft eines Comic-Helden. Doch Super-Recogniser gibt es tatsächlich. Mit ihnen arbeitet eine Sondereinheit der Londoner Polizei.
Auf den Bildern einer Überwachungskamera lässt ein Dieb Schmuck in seiner Tasche verschwinden. Flink, professionell, unbemerkt. "Fast wie ein Magier", beschreibt Josh Davis, Psychologe an der englischen University of Greenwich, die Aufnahmen. Ein Polizist einer Sonderheit des Scotland Yard, der Londoner Polizei, sieht die Bilder und erkennt den Täter sofort: Er hat ihn zuvor in einer anderen Aufzeichnung eines Diebstahls gesehen. Tagelang habe der Beamte weitere Überwachungsvideos durchforstet, erzählt Davis, und dem Unbekannten mehr als 40 Diebstähle in Londoner Edelboutiquen zugeordnet. Schließlich wird der Täter gefasst.
Der Polizist, der den Dieb auf mehr als 40 Überwachungsvideos erkannte, wird als Super-Recogniser bezeichnet. "Das sind Menschen, die sich unglaublich gut Gesichter merken können", erklärt Psychologin Sarah Bate von der britischen Bournemouth University. Dass es Leute gibt, die ein Gesicht nicht vergessen oder auf noch so verschwommenen Fotos Personen wiedererkennen, weiß die Wissenschaft erst seit wenigen Jahren. Noch steckt die Forschung in den Kinderschuhen. Doch schon jetzt eröffnet sie viele Perspektiven - in der Psychologie und in der kriminalistischen Praxis.
Untersuchung zu Gesichtsblindheit
Wissenschaftler um Richard Russell an der Harvard University (US-Staat Massachusetts) stolperten eher zufällig über diese Fähigkeit von Menschen, die sie Super-Recogniser nannten. Eigentlich untersuchten sie die sogenannte Prosopagnosie, Gesichtsblindheit. Betroffene haben eine angeborene Schwäche, Menschen anhand ihres Gesichts zu identifizieren - im Extremfall erkennen sie sogar Familienmitglieder nicht wieder.
Während der Forschung wurden die Wissenschaftler von Menschen kontaktiert, die das Gegenteil von sich behaupteten - dass sie sich besonders gut Gesichter merken könnten. Vier dieser Personen testeten die Forscher daraufhin. Ergebnis: Alle hätten bei Gesichtserkennungstests deutlich besser abgeschnitten als der Durchschnitt, berichteten die Forscher 2009 im Fachblatt "Psychonomic Bulletin & Review".
"Die meisten Menschen mit dieser Begabung wissen es gar nicht", sagt Davis, ein Experte für forensische und Kriminalpsychologie. Einige zum Beispiel merken, dass sie besonders gut Schauspieler in kleinen Nebenrollen oder Komparsen in Filmen wiedererkennen könnten. Andere Super-Recogniser berichteten Bate zufolge von peinlichen Schlüsselerlebnissen, etwa dass sie auf der Straße jemanden wiedererkennen, der sich überhaupt nicht an sie erinnert.
Zwei Prozent haben diese Begabung

Einige Super-Recogniser können vor allem Personen in einer großen Menschenmenge ausfindig machen.
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Offiziell gehe man davon aus, dass etwa zwei Prozent der Bevölkerung diese Begabung besäßen, so Bate. Wie viele Menschen man aber wirklich als Super-Recogniser bezeichnen könne, sei unklar. Davis schätzt den Anteil auf unter ein Prozent der Bevölkerung.
Doch was macht einen Super-Recogniser aus? Bate hält es für gut möglich, dass diese Menschen durchaus unterschiedliche Stärken haben, wenn es um Gesichter geht. Einige können sich etwa sehr gut an Gesichter erinnern, selbst nach flüchtigen Begegnungen. Andere sind besonders gut darin, Gesichter zuzuordnen, wenn sie mehrere Fotos vor sich haben - wie jener Polizist, der den Edelboutiquen-Dieb in mehr als 40 Überwachungsvideos wiedererkannte. Einige können laut Bate vor allem Personen in einer großen Menschenmenge ausfindig machen.
Wertvolle Fähigkeiten
Wie wertvoll diese Fähigkeiten sind, hat die Londoner Polizei nur durch einen Zufall erkannt. Davis, der eng mit Scotland Yard im Bereich Gesichtserkennung zusammenarbeitet, schildert, dass die Behörde vor 2009 gar nicht festhielt, welcher Beamte wie viele Täter anhand von Überwachungsbildern identifizierte. Als sie begannen, dies zu dokumentieren, fiel auf: Es waren immer wieder die selben Polizisten, die Verdächtige identifizierten. Psychologische Tests bestätigten, dass es nicht etwa an ihrer Motivation lag. Die Beamten konnten einfach überdurchschnittlich gut Gesichter erkennen.
Dann brachen Unruhen in England aus. Eine friedliche Demonstration in London entwickelte sich 2011 zu tagelangen Ausschreitungen. Autos wurden angezündet, Läden geplündert und Menschen verletzt. Danach begutachteten Londoner Polizisten tagelang Überwachungsbilder, um Straftaten und Täter zu identifizieren. Etliche Verdächtige waren vermummt. Es zeigte sich: Jene Beamten, die zuvor in den Test besonders gut abgeschnitten hatten, identifizierten Davis zufolge weitaus mehr Verdächtige als andere Polizisten. Ein Beamter allein habe anhand der Bilder mehr als 180 Täter erkannt.
2015 Gründung der Einheit von Super-Recognisern
2015 gründete die Londoner Polizei dann eine Einheit von Super-Recognisern - "die erste ihrer Art auf der Welt", so Davis, der die Truppe berät. Inzwischen gehörten ihr sieben Beamte an. Sie schauen sich demnach unter anderem Überwachungsvideos an und versuchen, Täter zu identifizieren und Straftaten Verdächtigen zuzuordnen - in einer Stadt mit schätzungsweise 500.000 Überwachungskameras gibt es dafür reichlich Bildmaterial. Seit Gründung hat die Einheit nach Angaben von Davis Morde aufgedeckt, Fälle von vermissten Personen gelöst und Diebe identifiziert.
"Aus Sicht der Polizei wurde mit den Super-Recognisern bislang unglaublich viel Zeit und Aufwand gespart", sagt Davis. Die Einheit hat Scotland Yard zufolge innerhalb von vier Monaten mehr als 500 Verdächtige in zuvor ungeklärten Kriminalfällen anhand von Überwachungsvideos identifiziert, 94 Prozent von ihnen wurden angeklagt.
Die Polizisten sind Davis zufolge den besten Softwares zur Gesichtserkennung weit voraus: Bei 1000 Bildern, auf denen die Beamten derzeit Verdächtige identifizieren, erkenne die Software nur einen.
Einsatz könnte viele Bereiche revolutionieren
Der Einsatz von Super-Recognisern könnte viele Bereiche der Sicherheit revolutionieren. Solche Beamte könnten Pässe an Flughäfen oder Grenzen kontrollieren oder bei großen Antiterror-Einsätzen helfen. Auch im Falle von verschwundenen Personen könnten sie Großes leisten - denn einige Super-Recogniser erkennen Bate zufolge Menschen noch nach Jahren selbst dann wieder, wenn sich ihr Äußeres stark verändert hat.
Bald soll es nicht nur in London Beamte mit derartigen Fähigkeiten geben: Bate hat nach eigenen Angaben zusammen mit der Polizei in den Grafschaften Lancashire und Dorset einen Eignungstest für junge Polizisten entwickelt, um so früh wie möglich ihre Fähigkeiten zu messen und ihnen die richtigen Aufgaben zuzuteilen.
Einsatz auch in Deutschland
Eine Gruppe von Super-Recognisern des Scotland Yard kam auch in Deutschland zum Einsatz. Sie unterstützte im Januar die Kölner Ermittlungen zu den Übergriffen in der Silvesternacht, für die sehr viel Bildmaterial von Überwachung- und Handykameras gesichtet werden musste. Zwei der britischen Polizisten hätten zudem ähnliche Fähigkeiten in drei Kölner Kollegen erkannt, die sie während ihres Aufenthalts schulten, sagte ein Polizeisprecher. Eine Einheit von Super-Recognisern gibt es aber nach Angaben der Kölner Polizei in der Domstadt nicht. Auch das Bundeskriminalamt (BKA) weiß bislang von keiner derartigen Abteilung in Deutschland.
Ein Grund dafür könne die unzureichende Zusammenarbeit zwischen Polizei und Wissenschaft sein, sagt der Psychologe Claus-Christian Carbon - vor allem im Bereich der Gesichtserkennung. "Meiner Meinung nach wird bei der Polizei zu wenig Wert auf Forschung gelegt", sagt der Wissenschaftler mit Spezialgebiet Gesichtserkennung von der Universität Bamberg. In Großbritannien sei das anders. Zwar kooperierten Wissenschaftler und Bundespolizei in Deutschland zu einem gewissen Maße miteinander, dies müsse aber deutlich ausgebaut werden.
"Wir haben zum Beispiel Polizeibeamte mit speziell präparierten Erkennungstests getestet: Viele Beamte sind da gar nicht besser als untrainierte Personen", sagt Carbon. Demnach sollten von Anfang an bei der Auswahl und beim Training von Polizisten Gesichtserkennungstests durchgeführt werden. So ließe sich etwa vermeiden, dass im extremsten Fall sogar ein Gesichtsblinder Fahndungsbeamter wird. Zudem müssten vor allem Bundespolizisten intensiv in Gesichtserkennung geschult werden, so Carbon.
Noch viele Fragen in der Forschung offen
Noch sind etliche Fragen in der Forschung zu Super-Recognisern offen. Vermutlich werde die Fähigkeit genetisch vererbt, sagt Bate. Auch habe es nach derzeitigem Stand weder etwas mit einem guten Gedächtnis noch mit einem hohen IQ zu tun - sondern mit jenem Hirnareal, das Gesichter verarbeitet. Genaueres ist noch unklar. Auch, ob es sich dabei um das obere Ende eines Spektrums - das von Gesichtsblinden bis zu Super-Recognisern reicht - oder eine ganze eigene, qualitativ unterschiedliche Fähigkeit handelt, ist Carbon zufolge noch nicht geklärt.
"Ein weiterer wichtiger Schritt in der Forschung wäre zu verstehen, was die Limitationen der Fähigkeit sind", sagt Bate. Etwa, wenn es um den sogenannten Cross-Race-Effect geht. Die meisten Menschen können Gesichter, die nicht der eigenen Ethnie entstammen, schlechter wiedererkennen. Bate sagt, inwiefern dies auch auf Super-Recogniser zutrifft, müsse weiter untersucht werden.
Davis befasst sich unter anderem mit der Frage, wann sich die Fähigkeit entfaltet. Eine großes Rätsel sei: "Gibt es auch Super-Recogniser-Kinder?"
Quelle: ntv.de, Gioia Forster, dpa