Der moderne Biedermann Wenn Spießigkeit schon wieder hip ist
03.08.2014, 13:54 Uhr
Mit ein bisschen Ironie gehen auch Gartenzwerge.
(Foto: picture alliance / dpa)
Wenn ich groß bin, werde ich auch Spießer. Was vor ein paar Jahren als Werbegag funktionierte, löst inzwischen nur noch ratloses Kopfschütteln aus. In seiner modernen Variante ist der Spießer sozial tolerierter Mainstream.
Früher war die Ansprache als "Spießer" ein soziales Todesurteil. Niemand wollte spießig sein, doch seit "Bionade-Biedermeier" ein anerkanntes Lebenskonzept in urbanen Räumen beschreibt, hat sich das geändert. Jetzt ist es hip, ein wenig spießig zu sein, wobei die Betonung auf ein wenig liegt.
Charlotte Förster und Justus Loring bezeichnen sich selbstbewusst als "Neospießer" und haben sich unter Modebloggern, Manufactum-Käufern und Biomarkt-Überzeugten umgesehen, um dem "modernen Spießer" auf die Spur zu kommen. Nach ihren Recherchen kamen sie zu der Überzeugung, dass ein "unspießiges Leben" praktisch unmöglich ist.
Doch woran erkennt man den modernen Spießer? Förster und Loring verstehen ihr Buch nicht nur als Menschheitsgeschichte der Spießigkeit, sondern auch als Bestimmungsbuch. Ganz in der Tradition des gediegenen Naturführers mit den putzigen Zeichnungen lässt sich hier nachschlagen, mit welchem Satz oder Kleidungsstück man in welche Spießerschublade gehört.
Immer schon selbstreferenziell
Sollte man beispielsweise gerade auf der Partnersuche sein, ergeben sich für den Neospießer mehrere Möglichkeiten. Jede Einzelne überzeugt durch ihren eigenen miefigen Charme, allerdings sollte man sich dort auch zu benehmen wissen und seine jeweiligen Beobachtungen einordnen können. Denn natürlich ist es ein himmelweiter Unterschied, ob man bei Manufactum fündig wird: "Es gibt sie noch, die guten Partner" oder im Programmkino bei dem künstlerisch wertvollen Experimentalfilm über pakistanische Kindersoldaten. Wer sich an den Typen mit dem Rollkragenpullover und dem Cordsakko ranschmeißt, der mühelos die Verbindung zwischen den Kindersoldaten und seiner eigenen Vaterkiste herstellen konnte, soll sich später nicht beschweren.
Ist man erst einmal in das Spießeruniversum eingetaucht, wird einem schnell klar, wie es geht. Die Mischung macht's. Dafür mixe man eine möglichst bornierte Auffassung ("Diesen Film muss man im Original gesehen haben.") mit einer guten Portion Unbelehrbarkeit ("Das geht gar nicht.") und füge noch einen Schuss Selbstironie hinzu ("Zwinker, zwinker"). Besonders gut eignen sich dafür kulturelle Fragen wie Bücher, Filme oder Musik, die Aufzucht des Nachwuchses und natürlich jegliches Konsumverhalten.
Allerdings sollte man bedenken, dass die Wahrscheinlichkeit gar nicht so gering ist, auf einen anderen Neospießer zu treffen, der das Spiel mindestens genauso gut beherrscht wie man selber. Dann sollte man den Inhalt der Bücher, die eigentlich nur zum Angeben in der Bibliothek stehen, wenigstens mal bei Wikipedia überflogen haben.
Außerdem ist jede Meinung prinzipiell dazu geeignet, auch wieder über Bord geworfen zu werden. Der Tatsache, dass der inzwischen über 80-jährige Henry Büttner mit seinen Illustrationen zum besseren Verständnis der Spießer beiträgt, sollte man an dieser Stelle vielleicht nicht allzu viel Bedeutung beimessen. Oder eben gerade doch.
Mit der richtigen Spießereinstellung sprechen Verlag und Autoren im Klappentext des 170-Seiten-Büchleins über ihr Werk als "Kleinod deutscher Verlegerkunst", bei dem nachhaltiges Lesevergnügen garantiert ist. Da dem Spießer nichts ferner liegt, als eine völlig neue eigene Meinung, ist dem wohl nichts hinzuzufügen.
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Quelle: ntv.de