Der mit den Fingern sieht Blind, glücklich, Maler
12.05.2011, 12:26 Uhr
Esref Armagan inmitten seiner Bilder.
Die Geschichte von Esref Armagan klingt unglaublich, fantastisch, und doch ist sie wahr. Es ist die Geschichte eines Malers, der von Geburt an blind ist, dessen Kunst im New Yorker MoMA hängt und der noch auf die ihm gebührende Anerkennung warten muss.
Er hat ein Dankesschreiben von Präsident Bill Clinton, den er porträtiert hat. Ein anderes Werk von ihm hängt im Museum of Modern Art, er hat die halbe Welt bereist, wurde zu Vorträgen eingeladen, von Studenten bejubelt und von Menschen bestaunt. Und doch ist es dem Mann, der von Geburt an blind ist und besser gegenständlich malt als die meisten Sehenden, nicht vergönnt, von seiner Kunst zu leben, wie ein außergewöhnlicher Künstler so leben sollte.
Vielleicht ändert der Film von Savas Ceviz, dem türkisch-stämmigen Filmemacher, der vor ein paar Jahren auf das Ausnahme-Talent aufmerksam wurde, jetzt etwas daran: Die Kamera tastet sich langsam und einfühlsam an die stets mit Farbe bedeckten Hände des 57-jährigen Türken heran, der wortwörtlich mit den Fingern sieht: Ruhig tastet er das Blatt Papier ab, misst Abstände, stellt Verhältnisse her, greift nach den wohlsortierten Behältern mit Farbe, malt ganz langsam und ruhig einen blauen Himmel, ein noch blaueres Meer, setzt weiße Möwen an den Horizont und lässt eine goldene Sonne strahlen, dass man sich nur wundern kann. Aber das Ganze ist kein Hokuspokus, kein Spiel. Armagan wurde untersucht, vermessen, beobachtet, in Kernspintomographen geschoben, bis sämtliche Experten, auch die letzten Zweifler, davon überzeugt waren: Ja, dieser Mann ist blind, er hat noch nie etwas sehen können. Und wenn, dann höchstens als Kleinkind.
Armagan kennt keine Farben, keine Formen, kein Licht, keinen Schatten, keine Abstände, keine Perspektiven - und doch malt er, als könne er sehen. Ein bisschen wie "Naive Malerei" mutet das manchmal an, wenn da ein Haus, ein See, eine Blume und ein Baum zu sehen sind, aber auch kraftvoll, und manchmal impressionistisch. Wie oft wurden wir schon getäuscht, zum Beispiel bei "Wetten, dass...?": Ein Kandidat hat eine Brille auf, erkennt Buntstifte angeblich am Geschmack - und hat doch bloß geschummelt. Solche Ereignisse machen die Menschen misstrauisch.
Esref begreift die Welt
Bei Esref Armagan aber ist es nachweislich anders: Professor John Kennedy, Psychologe an der Toronto University, untersucht seit über 35 Jahren Blinde. Auch für den Professor ist dies der erste Blinde, der so etwas kann. "Ich musste weinen, als ich mit meinen Untersuchungen fertig war", berichtet der Arzt, und auch sein Kollege Alvaro Pascual-Leone, Neurologe an der Harvard University, der das Gehirn des blinden Malers untersucht hat, ist perplex. Der Harvard-Experte ließ Esref in einem Kernspintomographen liegend zeichnen und fand Erstaunliches heraus: Armagans visueller Kortex reagiert beim Malen wie der eines Sehenden. Pascual-Leone ist sich sicher: "Man kann sagen, dass Esref mit seinen Fingern sieht."
In der Doku des vielfach ausgezeichneten Filmemachers Ceviz sind wir dabei und erleben, wie mühsam der Alltag eines Blinden sich manchmal gestaltet, mit welcher Selbstverständlichkeit er sich aber den Herausforderungen stellt. Wir erfahren, wie der blinde Mann seine ebenfalls blinde Frau "entführte", um sie zu heiraten, weil ihre Familie dagegen war, dass "noch ein Blinder in der Familie ist". Wir sind erstaunt über die witzige Art, wie er das erzählt, wie er berichtet, dass er sie in einer Hochzeits-TV-Show geheiratet hat, und wie sehr er seine Kinder aus einer früheren Ehe vermisst.
Wir begreifen, dass es Möglichkeiten außerhalb unserer Vorstellungskraft gibt, dem Leben die besten Seiten abzugewinnen, und wie gut es doch ist, manchmal an Unglaubliches zu glauben.
Das Leben ist schön
Auch Esref hat noch immer Momente, die ihn mehr als nachdenklich machen - und den Zuschauer ebenso hinterlassen: "Ich werde jetzt emotional", entschuldigt er sich im Film. "Das Leben ist ein Geschenk", sagt er. "Das Leben ist schön!". Zwei Tatsachen, die, so simpel sie sich anhören, aus dem Mund eines Mannes, der noch nie die ganze Pracht einer Frühlingswiese, eines Gebirges oder eines Meeres gesehen hat, der einem anderen Menschen noch nie tief in die Augen blicken konnte, erstaunlich sind. Er werde manchmal wütend, wenn er mitbekomme, wie es den Sehenden nicht gelingt, dankbar zu sein für das, was sie haben, erzählt Armagan ganz ruhig.
Im Publikum sitzen bei der Premiere im Babylon Kino am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin Freunde, Kollegen, Mitwirkende. Schauspielerin Catherine Flemming ("Commissario Laurenti", "Der alte Affe Angst", "Die Unberührbare") sprach den Anwesenden nach der Vorstellung wohl aus dem Herzen, als sie sagte: "Danke! Es ist ein Geschenk, dass Ihr diesen Film gemacht habt - auch für die Sehenden!" Und dann geht man hinaus aus dem dunklen Kino, hinein in einen warmen, schon sommerlichen Frühlingsabend, sieht in die Gesichter der anderen und denkt: "Herrlich, dass ich sehen kann!"
"Der mit den Fingern sieht" läuft am 12. Mai in 30 deutschsprachigen Kinos an.
Quelle: ntv.de