Reisners Blick auf die Front "Die Russen glauben, sie hätten den Sieg vor Augen"
29.07.2024, 18:16 Uhr Artikel anhören
In den vergangenen Tagen und Wochen habe es eine "massive Verschlechterung der Situation für die Ukraine" gegeben, sagt Oberst Markus Reisner im Interview mit ntv.de. "Entweder die Ukraine wird jetzt massiv unterstützt oder sie muss ihre Strategie verändern." Aus russischen Äußerungen höre man derzeit heraus, "dass die Russen glauben, sie hätten den Sieg vor Augen".
ntv.de: Präsident Selenskyj sagte gestern, im Bereich von Donezk sei es gerade besonders schwierig, und die meisten russischen Angriffe habe es in den vergangenen Wochen in Pokrowsk gegeben. Wie ist die Lage dort?
Markus Reisner: Auf der taktischen Ebene muss man klar feststellen, dass die Russen sich im Angriffsmodus befinden. Sie haben weiterhin klar das Momentum. Im Donbass greifen sie derzeit entlang von sieben Stoßrichtungen an - Pokrowsk ist nur eine davon.
Was sind die anderen?
Südlich von Kupjansk ist es den Russen gelungen, bei der Ortschaft Pischtschane vorzustoßen. Hier sind sie nur noch wenige Kilometer vom Fluss Oskil entfernt. Wenn sie den erreichen, müssen die ukrainischen Truppen sich in dieser Gegend hinter den Fluss zurückziehen, um nicht eingekesselt zu werden. Etwas südlich davon, bei Terny, finden ebenfalls russische Angriffe statt, dies ist ein weiterer Stoß in Richtung des Oskil. Wenn wir dann über den Fluss Siwerskyj Donez hinweg Richtung Süden schauen: Hier kann man klar erkennen, dass das Ziel der Russen ist, Siwersk zu erreichen. Die vierte Stoßrichtung ist noch weiter südlich bei Tschassiw Jar. Hier gab es in den letzten Tagen immer wieder Berichte, zum Teil auch Videos, an denen man erkennen kann, dass die Russen den Siwerskyj-Donbass-Kanal mittlerweile überschritten haben. Das würde bedeuten: Eine Einkesselung von Tschassiw Jar ist nur noch eine Frage der Zeit.
Wiederum weiter südlich bei Toretsk findet sich die fünfte Stoßrichtung - das ist die Siedlung Niu York, die Russland bereits erobert hat. Die Russen versuchen auch hier, eine Einkesselung vorzunehmen und auf Toretsk vorzustoßen. Und als weitere wichtige Stoßrichtung folgt das bereits erwähnte Pokrowsk. Hier, bei Otscheretyne, ist es den Russen in den letzten Monaten gelungen, eine Fläche von knapp 400 Quadratkilometern einzunehmen. Die Russen haben ausgenutzt, dass die Ukrainer es in dieser Gegend nicht geschafft haben, ihre Truppen zu rotieren. Sie rücken nun pro Tag im Schnitt einen Kilometer vor.
Und die siebte Stoßrichtung?
Ganz im Süden ist die letzte Stoßrichtung die bei Wuhledar. Hier erkennt man sehr gut, dass die Russen auf der taktischen Ebene versuchen, die Versorgungslinien der ukrainischen Truppen zu kappen - Versorgungslinien, die wichtig sind für die Unterstützung der ukrainischen Hauptstützpunkte. Wenn die gekappt sind, dann ist es für die Ukrainer kaum mehr möglich, hier dagegenzuhalten. Den Soldaten geht faktisch die Munition aus.
Das heißt, die Ukraine ist entlang der gesamten Front im Donbass in Bedrängnis.
Ja. Auf der operativen Ebene sehen wir, dass die Russen versuchen, die Ukraine durch Überdehnung und Abnutzung weiter in die Defensive zu drängen. Das ist eine Folge ihres Angriffs bei Charkiw: Das war ein Köder, den die Russen den Ukrainern gelegt haben. Mit großem Erfolg: Nach dem Angriff bei Charkiw hat die Ukraine sehr massiv Kräfte in diesen Raum verschoben. Die fehlen jetzt im Donbass. Es gibt zwar nach wie vor keinen Durchbruch. Doch die Situation ist prekär, vor allem bei Otscheretyne, wo die Russen vermutlich bald zur Gänze durch die zweite Verteidigungslinie gelangen. Die dritte Verteidigungslinie ist dann bereits die von Pokrowsk.
Warum sieht man keine Wirkung der westlichen Waffen? Das Ende der Lieferprobleme im Frühjahr müsste doch einen Unterschied gemacht haben.
Einen solchen Effekt wie im Spätsommer 2022 beim Einsatz der HIMARS-Mehrfachraketenwerfer sehen wir jetzt tatsächlich nicht. Die Ukrainer versuchen, mit Drohnen wirksam zu werden. Messbare ähnliche Erfolge wie damals, beispielsweise durch den derzeitigen Einsatz von ATACMS-Raketen, sehen wir allerdings nicht.
Aufgrund der Diskussionen in den USA kam es bekanntlich zu einer sechsmonatigen Verzögerung bei den Waffenlieferungen. Das hat man auch an der Front gespürt, wo die Russen einen sehr starken Überhang beim Artilleriefeuer hatten. Sie konnten die erzwungene Pause der Ukrainer nützen. Man konnte schon den Unterschied sehen, als die Lieferungen dann wieder ankamen, vor allem nördlich von Charkiw - aber immer mit der Einschränkung, dass die ATACMS nur maximal 100 Kilometer hinter der russischen Grenze eingesetzt werden können. Nur auf der Krim können sie ihre maximale Reichweite ausspielen.
Welche Rolle spielen die russischen Luftangriffe?
Damit sind wir zuerst auf der strategischen Ebene. Nach wie vor gibt es fast täglich russische Luftangriffe, vor allem auf die Energieinfrastruktur. Schon jetzt zeichnet sich also eine prekäre Situation im kommenden Winter für die Ukraine ab. Im Gegenzug führt die Ukraine strategische Angriffe auf Ziele in der Tiefe Russlands durch. Erst vor Kurzem gab es einen Angriff auf eine Raffinerie in Kursk. Hier gibt es auch insgesamt messbare Erfolge: einen Einbruch der russischen Raffinerie-Förderung in Höhe von 10 bis 15 Prozent. Das ist jedoch zu wenig, um einen kritischen Moment zu erreichen. Aus meiner Sicht hört man aus russischen Äußerungen derzeit heraus, dass die Russen glauben, sie hätten den Sieg vor Augen. Ob ihnen das gelingt, wird man sehen. Aber es ist klar, dass Russland mit seinem militärisch-industriellen Komplex auf Dauer am längeren Hebel sitzt, während die Ukraine dem Westen permanent erklären muss, was sie braucht, und der Westen trotzdem bei den Lieferungen sehr zurückhaltend ist.
Das zentrale Problem mit Blick auf die Luftangriffe ist im Moment jedoch die operative Ebene: Die Ukraine ist mit einer Situation konfrontiert, die sie schwer lösen kann. Und das ist der Einsatz der sogenannten FABs, der Gleitbomben. Die Russen werfen fast täglich bis zu 100 dieser Bomben ab, jeweils in einer Gewichtsklasse von 250 bis zu mittlerweile fast 3000 Kilogramm. Um dem einen Riegel vorzuschieben, bräuchte die Ukraine entweder aktive Fliegerabwehr, also Kampfflugzeuge. Oder sie bräuchte passive Fliegerabwehr, sprich: Fliegerbatterien, die sie an der Front stationieren kann. Beides ist nach wie vor nicht zur Hand, denn die passive Fliegerabwehr ist um die Städte positioniert und die F-16 sind noch nicht da. Deshalb können die Russen einen Stützpunkt nach dem anderen zerstören, dann angreifen und in Besitz nehmen. Die Ukraine könnte zwar die Flugplätze angreifen, von denen aus die russischen Maschinen mit den Gleitbomben starten. Aber das ist ihr offensichtlich nicht erlaubt.
Seit Monaten schon ist davon die Rede, dass die F-16 demnächst in der Ukraine ankommen. Warum dauert das so lange?
Einerseits liegt das an den vorbereitenden Maßnahmen, die notwendig sind. Die entscheidende Frage ist: Wo werden diese Kampfflugzeuge stationiert, wie viele Fliegerhorste gibt es, die diese Kampfflugzeuge aufnehmen können? Denn die Flugzeuge müssen ja permanent rotieren, damit sie nicht gleich von den Russen erkannt und zerstört werden. Das Zweite ist: Auf der russischen Seite ist ein massiver Überhang im Bereich der Fliegerabwehr vorhanden - sowohl mit Blick auf Flugabwehrgeschütze als auch mit Blick auf Kampfjets. Zu den F-16 hat der ukrainische Armeechef, General Olexander Syrskyj, dem britischen "Guardian" in der vergangenen Woche etwas Interessantes gesagt: Es werde nur möglich sein, sie mit mindestens 40 Kilometer Abstand zur Front einzusetzen, weil Russland sie sonst abschießt. Das zeigt das Dilemma der Ukraine: Sie muss immer fürchten, in Teilen geschlagen zu werden, weil sie nicht massiert Kräfte einsetzen kann. Das zieht sich wie ein roter Faden durch und hat auch zum Scheitern der Sommeroffensive im letzten Jahr geführt.
Immer wieder wird doch ein Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs gemeldet.
In der Gesamtheit ist das zu wenig, um einen kritischen Kipppunkt zu erzeugen. Das Militär spricht vom Prinzip der Übersättigung: Um einen Kipppunkt zu erzeugen, muss man den Gegner in kurzer Zeit dicht getaktet angreifen. Wenn das nicht gelingt, dann kann der Gegner sich immer wieder anpassen. Das sehen wir bei den Russen. Ohne Übersättigung schaffen es die Ukrainer nicht, nachhaltige, messbare Effekte zu erzielen - einen Stopp der russischen Offensive, ein Einfrieren der Front oder gar ein Zurückgehen der russischen Kräfte.
Warum liegt der Schwerpunkt der russischen Angriffe in Donezk, warum nicht an anderer Stelle?
Man geht davon aus, dass die Russen mittlerweile mindestens 520.000 Mann in der Ukraine im Einsatz haben. General Syrskyj sagte dem "Guardian", dass bis Ende des Jahres 690.000 Mann im Einsatz sein würden. Man kann gut erkennen, dass das strategische Ziel der Russen ist, die vier Oblast gewaltsam in Besitz zu nehmen, die Russland schon 2022 annektiert hat. In Luhansk fehlen nur noch wenige Quadratkilometer; mit dem Stoß zum Oskil wäre diese Oblast komplett in russischer Hand. In Donezk fehlt noch mehr, aber hier sieht man den massiven Druck der Russen Richtung Westen. Bei Saporischschja und Cherson gibt es die Einschränkung, dass sie erst den Dnipro überschreiten müssten, wenn sie diese Oblaste in Gänze einnehmen wollen. Darum legen die Russen das Schwergewicht auf Luhansk und Donezk.
Insgesamt gab es in den letzten Tagen und Wochen eine massive Verschlechterung der Situation für die Ukraine. In den europäischen Medien wird darüber kaum noch gesprochen. Jetzt nähern wir uns einem möglichen Kulminationspunkt, von dem ich am Anfang des Jahres gesprochen habe: Entweder die Ukraine wird jetzt massiv unterstützt oder sie muss ihre Strategie verändern.
Der ukrainische Generalstab veröffentlicht regelmäßig Updates, in denen sie unter anderem die Zahl der Angriffe angeben. Gestern Abend wurden demnach im Laufe des Tages bei Pokrowsk 16 russische Attacken abgewehrt. Wie umfangreich hat man sich diese Angriffe vorzustellen?
Die Russen haben auf der Gefechtsebene eine eigene Taktik entwickelt. Häufig ist es eine Kombination von mehreren Angriffen gleichzeitig. Da greift beispielsweise eine kleine mechanisierte Gruppe an, bestehend meist aus einem dieser improvisiert verstärkten Kampfpanzer, einem "Turtle Tank", begleitet von zwei, drei Schützenpanzern. Diese Gruppe zieht dann das gegnerische Feuer auf sich, und während die Ukrainer beschäftigt sind, diese Gruppe abzuwehren, kommt es zu Vorstößen von anderen russischen Truppen, zum Teil auf Motorrädern - wie im Zweiten Weltkrieg, wo die sogenannten Motorradaufklärungsregimenter oder -bataillone in ähnlicher Art sehr erfolgreich eingesetzt wurden. Diese Motorräder bilden quasi einen Schleier, der über die ukrainischen Stellungen gelegt wird. Dadurch erkennen die Russen, wo ein Durchbruch möglich ist. Dieses Vorgehen hat es den Russen ermöglicht, in den letzten Monaten von einem Grüngürtel zum nächsten und von einer Ortschaft zur nächsten zu gelangen.
Das klingt, als wären die russischen Angriffe sehr viel verlustreicher als die ukrainische Verteidigung.
Das ist so. Grundsätzlich hat der Angreifer immer mit höheren Verlusten zu rechnen. Aber die russischen Verluste sind wirklich enorm. Nach mittlerweile fast 890 Tagen Krieg muss man klar sagen, dass die Menschen- und Materialverluste für die Russen irrelevant sind. Offensichtlich haben sie im Moment keine Probleme, immer wieder frische Soldaten an die Front zu schicken.
Mit Markus Reisner sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de