Golzow ist Heimat Teil 20 feiert Premiere
12.02.2008, 12:08 UhrAls Schulanfänger stehen sie erstmals vor der Kamera. Längst sind sie Eltern, Großeltern. Hartnäckig, über 46 Jahre, verfolgte der Berliner Filmregisseur Winfried Junge (72) die Spuren der "Golzow-Kinder". Jetzt ist das "Ende der endlosen Geschichte" über einfache Menschen und ihr bescheidenes Glück aus der ostdeutschen Provinz definitiv. Teil 20 der längsten Filmchronik der Welt erlebte unter dem Titel "...dann leben sie noch heute" in der internationalen Forum-Reihe der Berlinale seine Premiere. Mit der Langzeitdokumentation "Die Kinder von Golzow" schrieben Junge und seine Frau Barbara nicht nur Film-, sondern auch Zeitgeschichte.
Während der erste, 1961 kurz nach Mauerbau in dem kleinen Dorf Golzow im Oderbruch nahe Berlin mit 26 ABC-Schützen gedrehte Streifen "Wenn ich erst zur Schule geh" gerade mal 14 Minuten dauerte, nimmt sich Junge beim Abschied fast fünf Stunden Zeit. Die fünf porträtierten Protagonisten, die einst gemeinsam die Schulbank drückten, könnten unterschiedlicher nicht sein. Die einzige Gemeinsamkeit: Während andere ihrem Dorf den Rücken kehrten, leben sie bis heute dort oder in der nahen Umgebung. Heimat ist Heimat. Vielleicht lässt sich Arbeitslosigkeit, die die meisten nach der Wiedervereinigung erwischte, so einfach besser ertragen?
Von ABM zu Hartz IV
"Trübsal dürfste nicht blasen", sagt Elke, die in der Lohnbuchhaltung der früheren Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) überflüssig wurde, als dort in den Nachwendejahren die Computer einzogen. Zweimal erhielt sie eine ABM-Stelle, nun lebt sie von Hartz IV. Karin, eine gelernte Geflügelzüchterin, hat es gleich im Westen probiert. Ganz schön schwierig sei es für sie in einer so "riesengroßen Stadt" wie Wuppertal gewesen. Sie musste bei Null anfangen als sie "rübergekommen" sei, erzählt sie nicht ohne Stolz. Die neue Wohnung, der neue Freund, die Arbeit im Altersheim - leider ist das Glück von kurzer Dauer. Sie zieht zurück nach Hause. "Ich muss arbeiten." Ob sich ihr sehnlichster Wunsch erfüllt, bleibt unbeantwortet.
"So verkehrt war das alles nicht"
Über das Schicksal von Gudrun, zuletzt Bürgermeisterin, lässt sich spekulieren. Ihre Biografie bricht 1991 ab. Ach, wäre sie bloß Köchin geblieben. Wie unbeschwert konnte sie als Lehrling mit den Küchenfrauen lachen. Später, als die Tochter des erfolgreichen LPG-Vorsitzenden in Golzow von ihren SED-Genossen zum Studium delegiert wird, um schließlich in Genschmar, einem Dorf unmittelbar an der polnischen Grenze, zu landen, kommt ihr das Lachen mehr und mehr abhanden. Gudrun, die linientreue Funktionärin, bleibt nach der Wende ihren sozialistischen Idealen treu: "So verkehrt war das alles nicht." Sie schult um zur Steuergehilfin und Buchhalterin, wechselt zeitweilig nach Karlsruhe. Den Mut, noch einmal vor die Kamera zu treten, findet sie nicht.
Joint Venture in der Ukraine
Wie sein Schulfreund Bernhard hat Eckhard in der LPG Maschinenschlosser gelernt. Der DDR-Alltag ist nicht gerade aufregend, aber man hat sein Auskommen. Als nach der Wende immer weniger Schlosser gebraucht werden, wechselt er in die Baubrigade. Dann ist auch dort Schluss. Wenigstens bei der Verschönerung des eigenen Hauses kann der arbeitslose Zwei-Zentner-Mann, Vater von vier Kindern, seine handwerklichen Talente einbringen. Für Bernhard findet sich eine Arbeit, an die der ewige Zögerer wohl nicht einmal im Traum dachte. Als eine Art "Entwicklungshelfer" verschlägt es ihn in die ferne Ukraine. Die Golzower haben dort seit Mitte der 90er Jahre mit einer Kolchose ein Joint Venture vereinbart.
Über 40 Stunden dauert die vollständige Golzow-Saga. Mit dem wachsenden Abstand zum DDR-Real-Sozialismus und zur Nachwendezeit dürfte sie selbst für Historiker zur wichtigen Quelle werden. Ein Postskriptum nach zehn Jahren kann sich Dokumentarist Junge durchaus vorstellen. "Wenn sich jemand dafür findet", meint er im Publikumsgespräch. Was ihn angeht: "Wenn man das Gefühl hat, alles Wesentliche erzählt zu haben, kann man Schluss machen."
Von Irma Weinreich, dpa
Quelle: ntv.de