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Schluss mit dem Debakel! Was machen wir bloß mit dem ESC?

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Alles gegeben und doch abgestraft: Lord of the Lost.

Alles gegeben und doch abgestraft: Lord of the Lost.

(Foto: picture alliance/dpa)

Deutschland ist ratlos. Warum hat auch der überzeugende Auftritt von Lord of the Lost beim Eurovision Song Contest nicht verfangen? Zugleich wird der Ruf nach Konsequenzen laut - bis hin, den deutschen Geldhahn für die Veranstaltung zuzudrehen. Doch wäre das wirklich zielführend?

Eines ist nach Deutschlands abermaligem Debakel beim Eurovision Song Contest (ESC) doch schon mal positiv: Nahezu alle Beobachterinnen und Beobachter sind sich einig, dass es am Beitrag, den Interpreten Lord of the Lost und ihrem Song "Blood & Glitter" nicht gelegen hat. Das war in der Vergangenheit schon anders. Da wurde den mitunter unerfahrenen, blutjungen und in radiotauglichen Pop-Gefilden beheimateten Interpretinnen und Interpreten oftmals zumindest eine Teilschuld übergeholfen.

Dabei war für sie die Pleite in der Regel deutlich tragischer als für jeden enttäuschten ESC-Fan, der danach einfach wieder zur Tagesordnung übergehen konnte. Man denke nur an die aufstrebende Sängerin Ann Sophie, die die undankbare Aufgabe übernahm, als Ersatzkandidatin für den Spontanverweigerer Andreas Kümmert anzutreten. Nach ihrem letzten Platz 2015 habe sie im Musikgeschäft erstmal kein Bein mehr auf den Boden gebracht, klagte sie später. 2021 trat sie dann schließlich sogar bei "The Voice of Germany" an.

Oder man denke an Jamie-Lee Kriewitz, die als "The Voice"-Gewinnerin 2016 mit gerade mal 18 Jahren zum ESC nach Stockholm fuhr, um dort ebenfalls Letzte zu werden. Sie hat sich nach ihrer großen Enttäuschung zwar inzwischen wieder etwas berappelt, unter anderem mit der Aufnahme deutschsprachiger Songs. Doch von einer großartigen Karriere kann man nach der Veröffentlichung ihres ersten und bis dato einzigen Albums "Berlin", das im ESC-Jahr immerhin Platz 18 der deutschen Charts erreichte, nicht gerade sprechen.

Die "große Frage"

Wenigstens dieses Problem haben Lord of the Lost nicht. Sie waren und sind in ihrem Gothic-Metal-Genre durchaus eine Nummer. Ihr wie der ESC-Song betiteltes Nummer-1-Album "Blood & Glitter" kann ihnen ebenso niemand nehmen wie ihre Tour mit Iron Maiden oder ihre Shows vor großen Fanscharen auf Konzerten und Festivals à la Wacken. Aber auch die Gewissheit, dass sie auf ihrer ESC-Mission nichts falsch gemacht haben, sollten sie behalten. Im Gegenteil: Ganz nebenbei haben Lord of the Lost bei ihren Auftritten in Liverpool auch noch so manches Metal-Klischee geradegerückt - mit Charme, Humor und Tiefsinn.

"Aber es bleibt die große Frage: Wen schicken wir?", zeigte sich Frontmann Chris Harms nach der Klatsche mit dem letzten Platz im ESC-Finale am Samstagabend dann auch weniger wehleidig als nachdenklich. Eine Frage, die spätestens im kommenden Jahr sicher wieder viele Fans, Medien, echte oder unechte Expertinnen und Experten beschäftigen wird. Bis dahin ist aber erst noch einmal weiter Wunden lecken, Ursachenforschung und Diskussion über mögliche Konsequenzen aus dem diesjährigen ESC-Ergebnis angesagt.

Dabei geht es übrigens nicht nur um das deutsche Debakel, sondern auch um das andere Tabellenende. Dass die Schwedin Loreen mit tatkräftiger Unterstützung der Jurys zum zweiten Mal den ESC gewonnen hat, obwohl das Publikum viel lieber den Finnen Käärijä auf dem Thron gesehen hätte, wird schließlich ebenfalls heftig diskutiert. Manche steigern sich dabei sogar in eine Verschwörungstheorie hinein: Ist es ein Zufall, dass Loreen den ESC ausgerechnet im Jahr des 50. ABBA-Jubiläums nach Schweden holt? Das Ganze auch noch mit ihrem Song "Tattoo", der Ähnlichkeiten zu ABBAS "The Winner Takes It All" aufweisen soll? Und das alles ausgerechnet unter der Ägide des schwedischen ESC-Chefs Martin Österdahl?

Dieses Gedankenkonstrukt kann man mit Sicherheit guten Gewissens ins Reich der Märchen verweisen. Grundsätzlich kommt das Misstrauen aber nicht von ungefähr, nachdem 2022 tatsächlich Unregelmäßigkeiten beim Jury-Votum mehrerer Länder aufgefallen waren. In der Folge schaffte die für den ESC verantwortliche Europäische Rundfunkunion (EBU) die Jurys dieses Jahr in den Halbfinalen ab. Dass nach Loreens Triumph über den Publikumsliebling Käärijä nun die Forderung laut wird, die Juroren auch im Finale in die Wüste zu schicken, war absehbar. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Glaubwürdigkeit der alles entscheidenden Abstimmung beim ESC, die hier zur Debatte steht.

"Wir werden verarscht"

Was auch wieder zum schlechten Abschneiden Deutschlands in diesem Jahr und bei den vorherigen Wettbewerben führt. Thomas Gottschalk drückte aus, was viele vermutlich denken: "Wir werden vom Rest Europas doch inzwischen verarscht, was die Bewertung beim ESC betrifft. Die mögen uns einfach nicht", lautete seine mehr oder minder fundierte Analyse. Während man aus dem Bauch heraus gern sofort zustimmen möchte, gibt es doch zwei veritable Anhaltspunkte, die gegen das grundsätzliche Deutschland-Bashing sprechen, das hier unterstellt wird: Lenas Sieg 2010 und - noch nicht so lange her - Michael Schultes vierter Platz 2018.

Mag sein, dass es hier und da bestimmte Vorbehalte gibt, die andere Länder bei der Punkte-Vergabe an Deutschland zögern lassen. Gleichwohl scheinen sie nicht so tief zu sitzen, dass einem deutschen Beitrag unter allen Umständen die kalte Schulter gezeigt wird. Schon treffsicherer als diese "Malus für Deutschland"-Theorie ist die "Bonus für Freunde"-Theorie - mit anderen Worten: das Punkte-Geschacher zwischen bestimmten Staaten, das in diesem Jahr jedoch vergleichsweise gering ausfiel.

Die baltischen Staaten als Beispiel: Die Jury Lettlands, das im Halbfinale ausgeschieden war, vergab im Finale 12 Punkte an Estland und 7 an Litauen. Estland wiederum schickte lediglich 1 Punkt nach Litauen, aber immerhin. Und Litauen versorgte Estland mit 5 Punkten. Das lettische Publikum bescherte Estland 6 und Litauen 10 Punkte. Die estnischen Zuschauerinnen und Zuschauer schickten 5 Punkte nach Litauen, von wo ebenfalls 5 zurück nach Estland gingen. Alles in allem noch überschaubar, möchte man denken. Klar ist aber auch: Wenn bestimmte Länder bei der Punkte-Vergabe quasi immer gesetzt sind, bleibt eben nur noch bedingt Platz für andere im Ranking. Schließlich können stets nur 10 Länder überhaupt mit Punkten bedacht werden (von 1 bis 8 beziehungsweise 10 oder 12).

Deutschland hingegen kann beim ESC auf kein derartig gefestigtes System des Gebens und Nehmens mit seinen Nachbarländern vertrauen. Egal, ob die Jurys aus Österreich, der Schweiz, den Niederlanden, Frankreich, Belgien oder Polen - sie alle sahen offenbar keinen Grund, Lord of the Lost bei ihrer Punkte-Vergabe ins Kalkül zu ziehen. Lediglich Tschechien schickte einen Zähler nach Deutschland (neben zwei Punkten aus Island). Doch immerhin beim Publikum zeigte sich eine gewisse nachbarschaftliche Solidarität. So standen hier 6 Punkte aus Österreich und 4 Zähler aus der Schweiz zu Buche - neben 5 Punkten aus dem traditionell Metal-affinen Finnland.

Der Fluch der automatischen Finalteilnahme

Eine andere Theorie, an der durchaus etwas dran sein dürfte, ist die, dass sich ein eigentlicher Vorteil Deutschlands schlussendlich in einen Nachteil verwandelt: die automatische Finalteilnahme. Zwar müssen die meisten Länder in einem Halbfinale darum zittern, sich überhaupt für den großen ESC-Showdown zu qualifizieren. Haben sie das jedoch erst einmal geschafft, ist ihr Song wenigstens schon mal im Ohr vieler Zuschauerinnen und Zuschauer gelandet und vielleicht zum persönlichen Favoriten des einen oder der anderen avanciert.

Das Problem, dieses Aufmerksamkeitsdefizit im Finale erst wieder aufholen zu müssen, haben neben Deutschland aber natürlich auch der Titelverteidiger und die anderen sogenannten "Big Five"-Staaten, die ebenfalls für das Finale gesetzt sind. In der Tat sah es für Großbritannien und Spanien in den vergangenen Jahren oft ähnlich düster aus wie für Deutschland beim ESC. Eine Ausnahme bildete für beide nur just das vergangene Jahr 2022, als sie den Sprung auf Platz 2 beziehungsweise 3 in der Endabrechnung schafften. Frankreich landet zwar seltener ganz hinten in der Tabelle, dümpelt allerdings zumeist irgendwo im Mittelfeld herum. Das mag die Franzosen aber wahrscheinlich kaum darüber hinwegtrösten, dass ihr letzter ESC-Sieg tatsächlich auf das Jahr 1977 (!) datiert. Möglicherweise lugt man hier deshalb sogar neidisch nach Deutschland.

So ist tatsächlich Italien das einzige "Big 5"-Land, das seit seiner ESC-Rückkehr 2011 einigermaßen kontinuierlich positive Ergebnisse bei dem Wettbewerb verzeichnen konnte - bis hin zum Triumph mit der Rockband Måneskin beim Song Contest vor zwei Jahren. Der Aufmerksamkeitsthese widerspricht dies jedoch nur bedingt. So wie die dauererfolgreichen Schweden ihre ESC-Kandidaten stets im Rahmen des aufwendigen "Melodifestivalen" krönen, veranstaltet Italien zu diesem Zweck alljährlich das Sanremo-Festival. Wer hier gewinnt, tritt die Reise zum Song Contest nicht nur mit einigen Vorschusslorbeeren an, sondern auch bereits mit einem gewissen Bekanntheitsgrad über die Landesgrenze hinaus.

Erzwingen lässt sich nichts

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Eine Tradition wie diese wird Deutschland jedoch nicht mal eben aus dem Boden stampfen können. Zumal das sicher noch deutlich teurer werden würde als der ohnehin schon hohe finanzielle Beitrag, den Deutschland zur Eurovision leistet und mit dem es sich den "Big Five"-Status ja letztlich auch sichert. Möglicherweise könnte man den Teufelskreis durchbrechen, indem man sich künftig ebenfalls der Halbfinal-Herausforderung stellt. Dieses Risiko ohne jegliche Erfolgsgarantie wird jedoch kaum jemand eingehen wollen.

Aber auch der Einwurf, den Thomas Gottschalk im Schatten der deprimierenden Ereignisse in Liverpool formulierte, ist wenig konstruktiv: "Die ARD muss nach diesen ganzen Pleiten einfach den Geldhahn zudrehen. Ohne Gold, kein Glitter." Erzwingen lässt sich der ESC-Erfolg halt nun mal auch nicht. Und so wird sie uns wohl weiter umtreiben, die "große Frage", die Lord-of-the-Lost-Sänger Chris Harms formuliert hat: "Wen schicken wir?"

Quelle: ntv.de

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