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Erzählungen vom Tätowieren Das Leben in die Haut geritzt

Der harte Kern: gesichtstätowierte Männer auf einer Tattoo-Convention.

Der harte Kern: gesichtstätowierte Männer auf einer Tattoo-Convention.

(Foto: dpa)

Tattoos sind wieder anrüchig. Nicht, weil sie von Außenseitern getragen werden, sondern von Bankangestellten. Eine sehr gelungene Anthologie erzählt von den Menschen, die kein Arschgeweih tragen, sondern ihr Herz auf der Haut: Verbrecher, Seefahrer, Kannibalen - und Kaiserin Sisi.

Bettina Wulff ist tätowiert. Warum auch nicht? Tribal und Arschgeweih sind schließlich heute allgegenwärtig, sie gehören längst zur Mode. Das öffentliche Verhältnis zu Tätowierungen hat sich gänzlich verändert. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren Tattoos Menschen aus dunklen Spelunken und verruchten Hafenkneipen vorbehalten, Seeleuten, Gefängnisinsassen und anderen Parias der Gesellschaft.

Für diesen buddhistischen Mönch haben Tätowierungen auch eine religiöse Bedeutung.

Für diesen buddhistischen Mönch haben Tätowierungen auch eine religiöse Bedeutung.

(Foto: dpa)

Lange erschienen sie beängstigend, diese tätowierten Menschen. Aber vielleicht kam das einfach daher, dass sie ihr Innenleben nach außen wendeten, dass sie es sichtbar machten für alle: die gewonnenen und verlorenen Lieben, die Sorgen, die Träume, die Sehnsüchte, die Ängste, die Orte, die man gesehen hatte oder sehen musste. Sie trugen ihr Herz auf der Haut.

"Das Herz auf der Haut" ist auch der Titel einer Anthologie aus dem Hamburger Mare-Verlag. Das Buch versammelt Geschichten, kurze Erzählungen und Sentenzen über Tätowierer, Tätowierte und natürlich Tattoos selbst. So vielfältig wie die Darstellungen auf der Haut sind auch die Beiträge aus der Literatur, die die Herausgeber Benedikt Geulen, Peter Graf und Marcus Seibert zusammengetragen haben. Der - tätowierte - Leipziger Autor Clemens Meyer steuert ein Vorwort bei. Er erzählt von den "bemalten und beschriebenen Seelen" und von seiner frühen Faszination der Körperbemalung.

Leidenschaft und Abgründe

So ist es kein Wunder, dass brennende Leidenschaft und düstere Abgründe zum roten Faden des Buches werden. Es scheint fast so, als würde sich die menschliche Existenz in diesen Geschichten verdichten: Geburt und Tod, Liebe und Hass, Gottgericht, Hölle und Paradies. Ray Bradbury ("Fahrenheit 451") etwa erzählt vom "illustrierten Mann", dessen Tätowierungen nachts zum Leben erwachen und sich, Ameisen gleich, über den Körper bewegen. Jens Kreutzmann begleitet den "Lustmörder Iseraasoraq" mit seinem Kajak an der Küste Grönlands entlang, der sich für jeden getöteten Mann eine Marke auf die Stirn tätowiert. Junichiro Tanizaki beschreibt, wie ein Tätowierer erst einer Frau und dann seinem eigenen Werk verfällt.

Einer der bekanntesten tätowierten Stars ist Angelina Jolie.

Einer der bekanntesten tätowierten Stars ist Angelina Jolie.

(Foto: REUTERS)

Weitere Beiträge stammen von Egon Erwin Kisch, Herman Melville, John Irving und vielen anderen. Wie oft bei Anthologien sind die Geschichten dabei stilistisch und inhaltlich breit gefächert. Das gilt auch für die Auswahl der Autoren aus dem 18. bis 20. Jahrhundert. Die größtenteils sehr guten Geschichten umfassen 5 bis 30 Seiten. Dabei sind zwischen die Erzählungen einzelne Sätze aus weiteren Werken eingefügt, etwa die erste Nennung des Wortes "Tattow" im europäischen Kontext durch James Cook. Und wer hätte schon gewusst, dass auch Kaiserin Elisabeth, Sisi, tätowiert war? Wohl mit 51 Jahren ließ sie sich in einer Hafenkneipe einen Anker auf die Schulter stechen.

Das Stigma des Verbrechers

Doch drei Erzählungen des - wie eigentlich immer bei Mare - außen und innen wundervoll gestalteten Bandes fesseln besonders. Die US-Amerikanerin Sylvia Plath, die sich 30-jährig das Leben nahm, erzählt in "Der Fünfzehn-Dollar-Adler" atmosphärisch dicht vom Besuch in einem Tattoostudio. Der Akt des Stechens wird hier zum religiösen Ritual, die Vorbereitung des Tätowierers ist "genauso pedantisch, wie ein Priester sein Messer für das gemästete Kalb schärft".

Der 1980 geborene Nicolai Lilin, selbst ein Tattoo-Künstler, ist mit einem Auszug aus seinem gefeierten Roman "Sibirische Erzählung" vertreten. "Wenn die Haut spricht" entführt den Leser in die Welt der sibirischen kriminellen Vereinigung der Urki. Dort erlernt der Protagonist, wie Tätowierungen aus dem Leben der Kriminellen erzählen. Jedes Bild, jeder Strich berichtet von den Taten, von den Gefängnisstrafen der Männer oder von dem Platz, den sie in der Hierarchie einnehmen. Ein untätowierter Körper kann hier zum Verhängnis werden. Schließlich erzählt Dorle Trachternach in "Frösche", wie ein Tätowierer zu einem letzten, großen Werk ansetzt, das ihn, genau wie die Natur, die ihn umgibt, verschlingen wird.

"Das Herz auf der Haut" ist im Mare-Verlag erschienen, hat 368 Seiten in Fadenheftung mit Lesebändchen und kostet 24,90 Euro (D).

"Das Herz auf der Haut" ist im Mare-Verlag erschienen, hat 368 Seiten in Fadenheftung mit Lesebändchen und kostet 24,90 Euro (D).

"Das Herz auf der Haut" stellt Welten vor, wie es sie vielleicht nicht mehr gibt. Und es zeigt eine Kultur, die mehr zu bieten hat als einen Delfin über dem Knöchel oder ein Herz auf dem Oberarm. Es ist darum nicht nur für Fans von Tattoos ein Lesevergnügen. Der Vorteil der Anthologie wird voll ausgespielt, weil eine inhaltliche Vielfalt erreicht werden kann, die der sehr alten Kulturgeschichte der Tätowierungen gerecht wird. Schließlich trug auch Ötzi bereits Zeichen auf der Haut.

So erinnern Tattoos an weit zurückliegende, archaische Rituale. Der Band nimmt den Leser mit in diese Zeiten und an diese Orte. Da ist es kein Wunder, dass fast am Ende des Buches jene Figur auftaucht, die wie kaum eine andere den literarischen "edlen Wilden" präsentiert: Queequeg aus Herman Melvilles "Moby Dick". Der Romanauszug schildert die erste Begegnung des Erzählers Ismaels mit dem Kannibalen. Es ist eine Begegnung voller Schrecken, die nicht nur von den heidnischen Ritualen herrührt, von den Schrumpfschädeln, die Queequeg mit sich führt, sondern auch von dessen exotischen, fremden, faszinierenden Tätowierungen.

"Das Herz auf der Haut" direkt im n-tv Shop bestellen.

Quelle: ntv.de

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