Väter, Söhne, Überleben und Verrat "Der Himmel über Green Harbor"
13.07.2014, 07:05 Uhr
Krabbenfischer vor Alaska.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Seit Generationen leben die Menschen in Loyalty Island vom Krabbenfang. Doch als der Inselpatriarch stirbt, steht plötzlich alles auf dem Spiel. Der 14-jährige Cal will den Untergang seiner Welt aufhalten. Es beginnt ein Prozess, in dem er nicht nur sich selbst neu entdecken muss.
"Loyalty Island - das war der Gestank von Hering, Lackfarbe und fauligem Seetang an Anlegestellen und auf Stränden. Der Geruch von Kiefernnadeln, die sich am Boden braun verfärbten. Das Rumpeln von Außenbordern, von Windböen und Eismaschinen, das Heulen hydraulischer Winschen." Dieses Fischerdorf ist die Heimat des 14-jährigen Cal, dessen Vater als Fischer arbeitet, wie schon sein Vater und dessen Vater.
Doch im Haus der Familie in der Seachase Lane herrscht eine eigentümliche Spannung. Die Mutter, einst aus der Sonne Kaliforniens hierher gekommen, zieht sich immer öfter in das Kellerzimmer mit ihrer riesigen Plattensammlung zurück. Dabei ist es sowieso schon so, als habe sie einen Teil ihrer selbst in Kalifornien zurückgelassen. Das unwirtliche Alaska ist ihr immer fremd geblieben.
Der Vater ist ebenfalls abwesend, monatelang fährt er mit den anderen Männern auf Fisch- und Krabbenfang. Mit jedem Tag, den er fort ist, entfernt er sich weiter in seine Welt, voll von Krebsen, Begeisterung und Erschöpfung. Nur selten meldet er sich über das Bordtelefon, und dann bleiben alle Dinge unausgesprochen. Inmitten dieser zerbröckelnden Beziehung seiner Eltern versucht Cal, erwachsen zu werden. Das bedeutet nicht zuletzt, zu entscheiden, ob auch er wie seine Vorväter als Fischer hinausfahren will.
Der Tod bringt Problem und Lösung
Das ganze Leben von Loyalty Island hängt am Inselpatriarchen John Gaunt, ihm gehören die Schiffe, die Fanglizenzen, das Kühlhaus, die Wohnhäuser, die Läden, einfach alles. Gaunts Urgroßvater soll einst diesen Ort im pazifischen Nordwesten der USA gegründet haben, beim alljährlichen Festessen wird die Geschichte wieder und wieder erzählt. Doch dann stirbt Gaunt und sein Sohn Richard soll alles erben. Ausgerechnet Richard, der schon bald nach seinem Schulabschluss die Gemeinde verlassen hat und sich seither nur noch sporadisch blicken lässt. Ihm steht es nun frei, die Fanglizenzen, die Flotte, das ganze Leben von Loyalty Island an japanische Investoren zu verkaufen.
Ausgerechnet jetzt braucht Cals Mutter mehr Zeit für sich und fährt nach Kalifornien. Cal muss bei Jamie wohnen, so lange sein Vater auf See ist. Und kaum ist die Flotte mit dem Erben an Bord ausgelaufen, trifft im Ort die Nachricht ein, Richard sei ertrunken. "Für jeden auf Loyalty Island war sein Tod eine ausgesprochen glückliche Tragödie." Cal und Jamie überlegen gemeinsam, ob dies schließlich die Lösung war, die ihre Väter gemeinsam nach Gaunts Tod gesucht haben, um den Untergang ihrer Welt aufzuhalten. Doch dann macht Cal in seinem verlassenen Elternhaus eine Entdeckung.
Dicht und sinnlich
Nick Dybek, 1980 geboren, wurde für sein trotz einiger Längen äußerst überzeugendes Debüt von der amerikanischen Presse stürmisch gefeiert. Dybek erzählt nicht nur mitreißend vom Erwachsenwerden, sondern auch von der schwierigen Entscheidung zwischen moralischen Grundüberzeugungen und familiären Verpflichtungen. Der junge Autor, zeichnet starke Bilder, um die dramatischen Brüche in der einheimischen Fischindustrie und deren Auswirkungen auf die betroffenen Familien zu zeichnen. Wenn die Männer an Bord der Schiffe um den Fang kämpfen, könnte man als Leser frösteln, so dicht und sinnlich sind Dybeks Beschreibungen.
Seite für Seite entfaltet sich das Panorama dieser archaischen Welt voller ungeschriebener Regeln. "Er wehrte sich dagegen, das einzig Vernünftige zu tun - so wie man sich dagegen wehrt, aus einem interessanten Albtraum zu erwachen." In immer neuen Wendungen entwickelt Dybek die Handlung, die sich schließlich in einem furchtbaren Finale entlädt.
Im Original heißt der Roman "When Captain Flint Was Still a Good Man." Man könnte das frei übersetzen mit: Als alles noch in Ordnung war. In Ordnung ist in der Welt des 14-Jährigen so gut wie nichts mehr. Und inmitten von Lügen und mythischen Geschichten ist es gar nicht so einfach, seinen eigenen Standpunkt zu finden und zu behaupten. "Wenn sich Familien auflösen, passiert dasselbe mit ihren Geschichten", schreibt Cal. Da hat er Loyalty Island längst hinter sich gelassen, so wie einst Richard Gaunt. Die Last dieses Sommer hat er mitgenommen in sein neues Leben. "Ich hätte wissen müssen, dass jedem Geheimnis allein dies zugrunde liegt: dass nämlich Menschen anderen Menschen unaussprechliches Leid zufügen."
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Quelle: ntv.de