Das Wunder von Berlin oder: ... Der Weihnachtsmann is mit'm Radl da
23.12.2009, 12:33 Uhr
Wunder gibt es immer wieder, jubilierte dereinst eine deutsche Schlagersängerin. Nein, dachte ich, als ich nach Feierabend, aus der Redaktion an Berlins Schiffbauerdamm kommend, in die Friedrichsstraße einbog. Wunder passieren verdammt selten. Da fährt doch vor mir ein Mann auf einem Fahrrad mit Rück-, und wie ich später sah, auch Vorderlicht, hält die Hand nach rechts und biegt ab. Seit mehr als einem Jahr fahre ich diesen, von Baustellen und unvorschriftsmäßig parkenden PKW gesäumten, Weg. Hunderte, was sag’ ich, tausende Radler sind mir begegnet, darunter auch unsagbar starke: Solche, die aus unerfindlichen Gründen die Kraft ihrer Fäuste an meiner Motorhaube ausprobiert haben. Einen, der sich bewegte wie ein stinknormaler Verkehrsteilnehmer, hatte ich noch nie erblickt.
Aber es gab ihn, leibhaftig. Es war … der Weihnachtsmann. Sofort packten mich zwei Gedanken. Ein uneigennütziger: Danke sagen dafür, dass ich so etwas erleben darf. Und ein zweiter, schnöder: Da kannst du doch deinen Wunschzettel loswerden, so auf ganz direktem Wege, ohne dass die Post den Brief verbummelt, so wie es mir neulich mit einem nicht ganz unwichtigen Schreiben erging. Doch Sankt Nikolaus ist unbestechlich. Aber zugänglich: Er rief mir seine Handynummer zu, bestand aber darauf, dass ich sie nicht weitergebe. Einen Heiligen hintergeht man nicht. Aber man darf kundtun, was man ihm dann ein paar Stunden später erzählt hat.
Jagger ohne Weichspüler

Also, hatte ich angehoben, es gibt da eine Ausgabe des ersten Livealbums der Rolling Stones, "Get Yer Ya-Ya’s", da sind neben der CD mit der ursprünglichen LP noch eine ganze Menge Leckerbissen dabei: eine DVD mit Aufnahmen vom Photoshooting mit den beiden Eseln, von denen einer Charlie Watts heißt und die beide später auf einem der schönsten Cover des Rock and Roll veröffentlicht wurden. Dazu Mitschnitte von Jagger und Richards, als sie noch Blues spielten und keine Weichspüler benutzten. Und bislang nicht veröffentlicht Audioaufnahmen der Auftritte von B.B. King und Ike & Tina Turner. Und ein Büchlein mit vielen bis dato unbekannten Fotografien. Der Mann am anderen Ende schnaufte: Warum nicht gleich die Luxusausgabe mit den vier Vinylplatten? Ich traute mich nicht. Manchmal ist das Leben eine Verkettung verpasster Gelegenheiten.
Dafür würde ich gern … Na, was? Weihnachtsmänner können ganz schön fies sein. Na, ja. Diese Dokumentation über John Lennons und Paul McCartneys erste Schritte ihrer Solokarrieren, vielleicht? Ich hatte gehört, dass darauf auch Mitschnitte von Yoko Onos Sologebrülle zu sehen und zu hören wären. Der ultimative Beweis für matriarchalische Dominanz und künstlerische Ignoranz. Das braucht ein Beatlesfan, der in diesem Falle eigentlich zu Mick Jagger neigt, der da sagte – Zitat – er würde seine Olle nie mit auf die Bühne nehmen. Andererseits ließ er es im "Rolling Stones Rock and Roll Circus" zu, dass John seine Olle doch mitnahm, wovon die DVD ein bedrückendes Zeugnis ablegt. Aber auch von Lennons Trotz-alledem-Genius und Pauls Kreativität, die der erfolgreichster Songschreiber aller Zeiten auch nach dem Bruch der Beatles entgegen gängiger Verleumdung ungebrochen unter Beweis stellte.
Die Geschichte einer Tragödie
Ich hörte, wie Knecht Ruprechts Feder etwas aufs Papier kritzelte und dachte: Geschafft. Dem Mutigen gehört die Welt, fiel mir dann ein, und ich wurde mutig. Elvis, wer sagte der Weihnachtsmann, Elvis erwiderte ich, ohne den es wohl weder Beatles noch Stones gegeben hätte. Ach, der antwortete er, der bei denen Santa Claus heißt, der dieser Tage seinen 75-sten gefeiert hätte? Richtig, auf den vier CDs der jetzt veröffentlichten Box lässt sich nachverfolgen, wie aus einem Rockabilly Rebel ein angepasster Neocrooner wird. Die Geschichte einer musikalischen wie menschlichen Tragödie, ohne die sich das Phänomen Elvis nicht verstehen ließe. Kritzeln. Geschafft.
Einer, der sich nie anpasste, heißt Pete Seeger. Santa wurde hellhörig. Er hatte sich auch nie angepasst; die Leute hatten ihn immer genommen, so wie er war. Rotbemäntelt, rauschebärtig. Ja, fuhr ich eifrig fort. Eine Art Rauschebart hat der inzwischen mehr als Neunzigjährige auch, und rot ist er wie Du, wenn auch eher von innen heraus. Da meinte der Weihnachtsmann, er würde die Doppel-CD mit so wundervollen Songs wie "Guantanamera", "If A Had A Hammer", "We Shall Overcome" und "Los Cuatro Generales" wohl auch für sich besorgen.
"Meilenstein der Rockgeschichte"

Lag mir noch der Wunsch nach den vier Generälen des Ska auf der Zunge, deren legendäres Album "London Calling" vor dreißig Jahren erstmals und nun in einer remasterten Ausgabe wiederveröffentlicht wurde. Nur ‚raus damit, tönte der Mann, der ganz sicher Gedanken lesen konnte. Die Clash-CD kriegst Du auch noch. Ich stammelte noch etwas wie "Meilenstein der Rockgeschichte" und: "’Brand New Cadillac’ haben wir damals in unserer Schülerband auch gespielt". Vergleich’ deine Dilettantentruppe ja nicht mit den Genies um Obergenie Joe Strummer, grummelte der Alte böse, der so eine erstaunliche Kenntnis des modernen Rock and Roll offenbarte.
Und noch etwas offenbarte er mir ganz zum Schluss. Weißt Du, warum ich es an jenem Tag so eilig hatte: Die Polizei war hinter mir her, weil sie mich mit meinem vorschriftsmäßigen Fahrrad und Verkehrsverhalten für einen verrückten Störenfried des sonst an dieser Stelle üblichen Chaos’ hielt.
Elvis Presley: "Elvis 75 – Good Rockin’ Tonight", Boxed Set 4CD, RCA Sony
Pete Seeger: "Live In ‚65", 2CD, Apleesed Recordings
The Beatles: "Composing Outside Lennon And McCartney 1967-1972”, DVD, Pride DVD
The Clash: "London Calling", CD, Columbia
The Rolling Stones: "Get Yer Ya-Ya’s Out", Boxed Set 3CD/DVD, ABKCO Records
Quelle: ntv.de