Bücher

Ganz normaler Wahnsinn "Der wunde Punkt"

Eigentlich ist bei den Halls, einer typischen Vorstadtfamilie, alles in bester Ordnung. Tochter Katie will zum zweiten Mal heiraten, Sohn Jamie ist schwul und hat endlich einen festen Freund (oder etwa doch nicht?), Mutter Jean geht im Alter fremd, und George, das Familienoberhaupt, droht unmittelbar nach Antritt der Rente verrückt zu werden – aber auf die sanftmütigste Art der Welt.

Marc Haddon, dessen erster Roman "Supergute Tage" vor drei Jahren auf Anhieb ein Weltbestseller wurde, hat sein zweites Buch geschrieben: "Der wunde Punkt". Die hohen Erwartungen an das Werk hat der 45-jährige, in Oxford lebende Autor nicht enttäuscht. "Der wunde Punkt" ist hoch unterhaltsam, voller Komik und mit einem ausgeprägten Sinn für witzig-absurde Details.

Dabei ist die Geschichte selbst durchaus ernst: George, ein ewiger Pessimist (aber ein liebenswerter), entdeckt in der Umkleidekabine eines Kaufhauses einen merkwürdig aussehenden Fleck an seiner Hüfte. Sein erster Gedanke: Krebs! Sein zweiter Gedanke: Wie bringe ich mich am besten um? George hat einen Blackout, den er vor seiner Familie genauso geheim hält wie die verdächtige Hautveränderung. Auch dass er seine Frau beim Sex mit einem anderen Mann gesehen hat, teilt er niemandem mit.

Haddon präsentiert uns eine britische Familie, in der jeder seine Geheimnisse hat; sei es aus Angst vor den Reaktionen der anderen Familienmitglieder, sei es aus Angst vor der öffentlichen Meinung. Die Kommunikation untereinander ist gestört. Klar, dass das nicht gerade zur Lösung der Probleme beiträgt.

George kann die Geheimnisse, die er hütet, nicht verarbeiten. Er ist ein Meister der Verdrängung – oder versucht es zumindest zu sein. Um sich mit seinen Problemen auseinanderzusetzen, fehlt ihm nicht zuletzt die nötige Ruhe. Im Hause Hall geht es drunter und drüber. Schließlich will Katie, ein intelligentes und „ganz schön feuriges Frauenzimmer“, ausgerechnet Ray heiraten. Der ist ein einfacher Arbeiter ohne Manieren. Sein Bruder sitzt im Knast. George soll auf der Hochzeit eine Rede halten. Das allein ist schlimm genug. Aber da wäre noch ein anderes Problem: Was passiert, wenn sein Sohn mit seinem Freund auf der Hochzeit erscheint?

Während George dem Familienwahnsinn schließlich nur noch mit Valium Stand hält, plagt seine Frau Jean ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Affäre. Sollte sie die Karten auf den Tisch legen und mit ihrem Geliebten ein neues Leben anfangen? Jean ahnt nicht, dass bereits ihre gesamte Familie Bescheid weiß.

Es geschieht, was geschehen muss: Irgendwann kommt es zum Eklat, sämtliche Geheimnisse drängen ans Tageslicht. Der Zeitpunkt dafür – das war zu befürchten – hätte ungünstiger nicht sein können

Eine an sich ernste Handlung also, in der eine Katastrophe die andere jagt. Doch Haddon, der viele Jahre mit geistig und körperlich behinderten Menschen gearbeitet hat, gelingt es, die Geschichte mit viel Liebe und Empathie für die Charaktere auf humorvolle Weise zu präsentieren. Er offenbart die Komik und Absurdität der Situation, ohne die Figuren jemals lächerlich erscheinen zu lassen. Auch wenn uns ihre Reaktionen nicht immer schlüssig erscheinen, empfinden wir Sympathie für alle – umso mehr, als die Kapitel wechselweise aus der Sicht der einzelnen Hauptfiguren geschrieben sind.

Und schließlich erleben wir mit, wie die Halls wieder zueinander finden – inmitten der größten aller Krisen. Übrigens ist es ausgerechnet George, der sich dabei als der "wahrscheinlich Normalste in der ganzen Familie" entpuppt

Andrea Schorsch

Marc Haddon: "Der wunde Punkt", Karl Blessing Verlag, München, 2007
448 S., gebunden, 19,95 Euro

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen