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Politische Landschaftsvermessung Vom Ende der Lager

Man kann es nun schon seit ungefähr zehn Jahren in schöner Regelmäßigkeit beobachten: Wenn an den Wahlsonntagen die ersten Hochrechnungen bekannt gegeben werden, ist die Verwirrung stets groß. Wie kann es geschehen, so lautet eine häufig gestellte Frage, dass eine Partei, die eine Region jahrzehntelang nahezu monopolartig beherrscht hat, so herbe Verluste hinnehmen muss? Während die breite Öffentlichkeit immer öfter ratlos zurückbleibt, sind die Medienvertreter indes selten um eine Antwort verlegen. Da werden kurzerhand ein nicht medienkompatibler Spitzenkandidat, nicht in die "politische Landschaft" passende Vorschläge oder – in letzter Zeit immer beliebter – auch törichte Wähler, welche die etablierte Farbenlehre aus reinem Übermut über den Haufen werfen, für die Umschichtungen auf den Wählermarkt verantwortlich gemacht.

Die Ursachen für die Transformationen im deutschen Parteiensystem liegen jedoch wesentlich tiefer. Denn wenn es so ist, dass Parteien zwischen Gesellschaft und politischem System vermitteln sowie die materiellen Interessen und kulturellen Werthaltungen aus der Bevölkerung aufnehmen und zu politischen Alternativen bündeln sollen, dann dürfte es einigermaßen einsichtig sein, dass Veränderungen in der Gesellschaft am Parteiensystem nicht spurlos vorübergehen können. Die Wahltage sind dann lediglich der Kulminationspunkt überaus langwieriger Entwicklungslinien. Dies ist die Ausgangsüberlegung im neuen Buch von Franz Walter. Der Göttinger Parteienforscher, der es wie kein Zweiter versteht, die Witterung des "Zeitgeistes" aufzunehmen und zur Erklärung von politischen Entwicklungen heranziehen, hat mit "Baustelle Deutschland" eine Art Koordinantensystem der politischen Zustände der Merkel-Jahre vorgelegt.

Individualität vs. Gemeinsinn

Auf Grundlage der Lebensweltstudien des Heidelberger Sinus-Sociovision-Instituts skizziert Walter verschiedene Milieus, deren Voraussetzungen, Interessen, Werte und Ambitionen sich markant voneinander unterscheiden. Die Ursache für die ansteigende gesellschaftliche Ausdifferenzierung liegt für ihn dabei nicht zuletzt in einem massiv forcierten ökonomischen Wandel, der zu einer beträchtlichen Pluralisierung der Lebenslagen geführt hat. Die größten Veränderungen hat es dabei in den unteren Milieus gegeben, wo sich die Leitvorstellungen der klassischen Arbeiterbewegung nahezu aufgelöst haben, ja mittlerweile auf aggressive Ablehnung stoßen. Neben den zunehmend randständigen "Traditionsverwurzelten" haben sich in diesem Gesellschaftssegment in den letzten beiden Dekaden "Konsum-Materialisten" und "Hedonisten" herausgebildet, für die allein "Fun und Action" zählen und die kaum noch über ein Leistungsethos oder eine über den Tag hinausreichende Lebensplanung verfügen – geschweige denn, dass sie sich gesellschaftlich in irgendeiner Form engagieren würden.

Aber auch die Elitemilieus hat der hegemoniale Hardcore-Individualismus nachhaltig umgeformt. So hat die Bereitschaft zur Übernahme eines Ehrenamtes sowohl bei den "Konservativen" als auch bei den "Etablierten" und den "Postmateriellen" rapide abgenommen. Im Vordergrund steht nunmehr der Primat des individuellen Wohlempfindens, das es angesichts geschrumpfter Verteilungsspielräume mit allen Mitteln zu schützen gilt. Die christliche Religion hat unterdessen ihre Rolle als einigendes Band des Bürgertums infolge der fortschreitenden Säkularisierung weit gehend verloren. Ein klassisch konservatives Bildungsbürgertum mit einem staatstragenden Anspruch existiert nur noch in kläglichen Resten. Resignation und der Rückzug ins Private kennzeichnen auch die Gefühlslage der "mittleren Mittelschichten", die sich von der Politik besonders benachteiligt fühlen und sich sukzessive von allem Politischen abwenden.

Ideologische Ungezwungenheit

Abgesehen von den "DDR-Nostalgikern", die sich in verbitterter Opposition zur Mehrheitsgesellschaft befinden, ist es vor allem die "bürgerliche Mitte", die sich als Opfer der Deregulierungspolitik sieht und von eklatanten Abstiegs- und Deklassierungsängsten geplagt ist. Gleichzeitig zeigt sich in der "Mitte" aber auch die ideologische Abrüstung der vergangenen Jahre besonders deutlich, bedient man sich dort doch ungezwungen je nach Gusto der verschiedenen Philosophien. Zur neuen gesellschaftlichen Unübersichtlichkeit trägt schließlich noch ein ebenfalls vielfach fragmentiertes Migrantenmilieu bei, das in Wertefragen sogar eine breitere Spannbreite als die Aufnahmegesellschaft aufweist.

Was folgt nun aus alledem? Das Zukunftspanorama, das Walter zeichnet, ist zumindest ungemütlich. Das Schwinden ganzheitlicher Weltanschauungen setzt speziell den Volksparteien arg zu. Besonders folgenreich ist die Tatsache, dass ihnen vor allem ihre traditionellen Kerntruppen (Arbeiter und Selbstständige) von der Stange gehen. Im Ergebnis verwischen sich so die inhaltlichen Unterschiede, verengt sich auch ihr Personaltableau. Um weiter im Spiel zu bleiben, bewegen sie sich unisono auf eine medial konstruierte "Mitte" zu, während die noch verbliebenen Differenzen umso vehementer inszeniert werden.

Da sich in der angenommenen Mitte allein die Chancenbefähigten tummeln, fallen die Modernisierungsverlierer, die neuen Unterschichten, durch das Raster und wenden sich in Ermangelung ernst gemeinter Angebote wohl final von Politik und Demokratie ab. Auf der anderen Seite geht den ökonomischen Eliten der soziale Wandel nicht hurtig genug vonstatten, sodass dort inzwischen eine regelrechte Staatsverachtung grassiert. Wahlenthaltung wird somit zum schichtübergreifenden Phänomen.

Mehr Kooperation wagen

Im Zuge dieses Trends verlieren die Parteien den Bezug zur Gesellschaft und werden immer mehr zu einem Teil des Staates. Langfristig droht für Walter der Weg in ein postdemokratisches Zeitalter. Allerdings ist der "demokratische Substanzverlust" bislang kein öffentliches Thema, dominiert allein der Fatalismus vorgeblicher ökonomischer Eigengesetzlichkeiten. Derweil führt die gesellschaftliche Ausdifferenzierung zu einem Mehr- und Vielparteiensystem aus dem die Notwendigkeit zum Eingehen komplexer Bündnisse erwächst. Eine entsprechende Neubündelung der sozialen Kräfte könnte dabei einen wirklich innovativen Vorgang darstellen. Allerdings scheinen vorerst sowohl die politischen Akteure als auch das Wahlvolk hiermit überfordert zu sein, wie etwa die merkwürdige Debatte um gebrochene "Wahlversprechen" zeigt.

Der verstärke Zwang zur lagerübergreifenden Kooperation wird aber in jedem Fall dazu führen, dass sich die Mainstream-Parteien weiter annähern, was die Erfolgsaussichten von Populisten mit klaren Botschaften erhöht. Die Einführung von direkt-demokratischen Elementen könnte hier für eine gewisse Entlastung sorgen. Aber die eigentliche Herausforderung für das deutsche Gemeinwesen liegt für Walter darin, neue Kooperations- und Kompromissmuster zu etablieren und zu lernen, mit den dabei notwendigerweise auftretenden Ambivalenzen und Unschärfen umzugehen. Es gehe folglich darum, Wege zu finden, die neue gesellschaftliche Unübersichtlichkeit rational und gemeinschaftsfördernd zu steuern. Noch aber scheinen Ansätze jenseits des Status quo als weltfremde Fantasterei zu gelten. Franz Walter hat die momentane gesellschaftliche Ausgangslage in bestechender Klarheit aufgezeigt. Ob die politischen Akteure fähig sind, die richtigen Schlüsse zu ziehen wird sich zeigen.

Daniel Müller

Franz Walter: "Baustelle Deutschland. Politik ohne Lagerbildung", Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 10,00 Euro

Quelle: ntv.de

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