"Wir haben noch das ganze Leben" Wünsche zur Weltmeisterschaft
22.05.2010, 07:00 UhrVier Freunde schreiben beim Endspiel Frankreich-Brasilien Lebenswünsche auf und wollen nach vier Jahren Bilanz ziehen. Doch bis zur nächsten WM hat sich alles verändert.
"Du hast ja keine Ahnung, was für ein Glück das ist, dass wir einander haben, keine Ahnung hast du", ist die Formel, mit der Churchill, Juval, Amichai und Ofir beständig ihre Freundschaft beschwören. Und wie das so ist mit Freundschaften, hat auch diese einiges auszuhalten. Etwa die beständigen Entfernungen und Annäherungen, die das Leben mit sich bringt - gerade wenn man sich aus Schultagen kennt und später Liebe, Betrug, Geburten und Tod gemeinsam verarbeiten muss. Oder die Lücke, die jeder hinterlässt, der sich von der Gruppe entfernt, ob aus Liebeskummer, einer Sinnkrise oder beruflichem Ehrgeiz. Denn jeder in diesem Kosmos hat seine Aufgabe.
Churchill, schon seit der Schule der Wortführer, muss den Weg weisen, wenn sich die drei anderen in kruden Ideen oder Streitigkeiten verstricken. Amichai lebt das geordnete Familienleben vor und seine Kreativität mit aberwitzigen Ideen aus, die die Bande zwischen den verschiedenen Freunden stärken sollen. Ofir sagt der Werbewelt Adieu und zeigt allen, dass man sein Leben komplett ändern kann. Und schließlich Juval, der kleinste der Gruppe, der sein Leben nicht in den Griff kriegt, aber für seine Freunde als Ruhepol wichtiger ist, als er selber glaubt.
Juval ist es, der aus seiner Perspektive die Geschichte dieser Freunde erzählt - von dem Tag an, als sie als passionierte Fußball-Gucker ihre Weltmeisterschaftswünsche machen. Jeder von ihnen schreibt drei Wünsche auf, die sich bis zur nächsten Weltmeisterschaft erfüllen sollen. Einen Wunsch teilen sie mit den anderen, die beiden anderen bleiben geheim. Vier Jahre später ist alles anders als erwartet. Oder doch nicht?
Was Freundschaft ausmacht
Es ist keine Geschichte, die man so oder so ähnlich nicht schon gelesen, gehört oder erlebt hätte. "Coming of Age"-Geschichten sind fast immer auch Geschichten über Freundschaften. Aber der israelische Autor Eshkol Nevo schafft es, einen von der ersten Seite an in den Bann seiner Erzählung zu schlagen. Man landet mitten im Freundeskreis und kann sich selbst, seine Freunde oder die Freunde, die man sich wünschen würde, darin wiederfinden. Seit Jahren habe er über das Thema Freundschaft schreiben wollen, erzählt Nevo im Gespräch mit n-tv.de. "Aber ich hatte die Befürchtung, dass ich am Ende über meine realen Freunde schreiben würde. Was weder ethisch noch wirklich interessant ist." Am Ende habe er fünf Charaktere geschaffen, die, wie man in Israel sagen würde, ein "Salat" aus Menschen seien, die er kenne, ihm selbst und dem, der er gerne wäre.
"Wir haben noch das ganze Leben" ist nach einem Band mit Erzählungen und dem Bestseller "Vier Häuser und eine Sehnsucht" der zweite Roman Eshkol Nevos, der in Deutschland erscheint. Die Geschichte könnte sich im Grunde überall abspielen, dennoch blendet Nevo den Ort seiner Handlung, Tel Aviv, nicht komplett aus. "Die israelische Realität in ihrer Brutalität ist definitiv präsent, wenn auch eher subtil", so der Autor, der auf die üblichen Klischees bewusst verzichtet hat. So gründen seine vier Romanhelden ihre Freundschaft eben nicht auf das legendäre Zusammengehörigkeitsgefühl bei der israelischen Armee, sondern kennen sich aus Kindheitstagen. Und so unterschiedlich die Charaktere gezeichnet sind, entspricht keiner dem Rollenbild des israelischen, fußball-verrückten Machos.
Churchill, Amichai, Ofir und Juval erzählen von dem Einsatz, den Freundschaft erfordert und von den Fragen, die aufkommen, wenn wir versuchen, die Weichen für unser weiteres Leben zu stellen. Was wollen wir eigentlich? Haben wir heutzutage zu viele Ablenkungsmöglichkeiten und Optionen, um das herauszufinden? Und vor allem: Haben wir wirklich noch das ganze Leben, um unsere Wünsche zu erfüllen?
Eshkol Nevo will sich die Fußball-WM 2010 auf jeden Fall mit seinen Freunden ansehen. "Und vielleicht werden wir dieses Mal mutig genug sein, die originalen Wunschzettel, die wir vor 12 Jahren geschrieben haben und die die Inspiration für den Roman waren, aufzumachen."
Eshkol Nevo: "Wir haben noch das ganze Leben", dtv Premium, 15,40 Euro. Buchpräsentation am 31. Mai 2010 im Jüdischen Museum Berlin mit dem Autor und dem Schauspieler André Kaminski
Quelle: ntv.de