"Ich wollte Gary vernichten" Großes Kino: Take That
22.11.2010, 11:47 Uhr
Nicht nur äußerlich erwachsen geworden: Take That.
Einst haben sie sich geradezu bekriegt, doch nun sind sie in Originalbesetzung "back for good": Take That. "Progress" heißt ihr neues Album und "Look Back don't Stare" eine Dokumentation, die beeindruckend schonungslos sein Entstehen dokumentiert.
Also, es gibt circa siebenunddreißig, ach was, dreihundertsiebenunddreißig Gründe, warum ich diesen Text nicht schreiben sollte. Die wichtigsten drei in absteigender Relevanz-Reihenfolge - erstens, der Killer-Grund: Ich bin ein heterosexueller Mann. Dieser Umstand allein würde schon reichen, hier einfach Schluss zu machen. Aus, Sense, Ende Gelände. Schön, dass Sie diesen Text angeklickt haben, aber mehr ist leider nicht. So wie früher bei Peter Lustig: Abschalten bitte.
Punkt 2: Es geht um Take That. Haaalllooo?!?! Take That. Als die ihr erstes Album veröffentlichten, schüttelte ich gerade zu Nirvanas "Smells like teen spirit" das volle Haupthaar. Was bitte konnte es Uncooleres geben als eine gecastete Boyband, den britischen Klon von "New Kids on the Block", dessen Mitglieder mit offenen, wallenden Hemden am Strand irgendwelche albernen Choreografien herunter hampelten. Lächerlich!
Und drittens: Robbie Williams. Das Bohei um diesen Typen mussten wir uns ja nun wirklich lange genug antun. Vermutlich sind noch mehr Beziehungen am Streit um das Robbie-Poster neben unserem Playmate-Centerfold über dem Bett als Mädchenherzen an der Trennung von Take That 1996 zerbrochen. Sie wissen ja: Nur die dümmsten aller Kälber wählen ihren Schlächter selber. Daher: Robbie? Niemals!
Warum habe ich bloß kein New-Kids-T-Shirt?
Da kam mir diese Einladung zur Vorführung einer Dokumentation über die Reunion der fünf Pappnasen doch gerade recht: "Look Back, don't Stare." Ha, von wegen! Da starre ich aber mal ganz genau hin. Und schütte einen großen Kübel Hohn und Spott über Robbie und Co aus. Prima!
Als ich ins Kino komme, bietet sich mir bereits der erste erschreckende Anblick: Frauen über Frauen. Nicht, dass das an sich erschreckend wäre. Aber hey, das sind alles Robbie-Fans. Oder Gary-Fans. Oder gar beides. Irgendwie schade, dass ich kein News-Kids-T-Shirt besitze. Ansonsten wäre ich damit jetzt vor der Leinwand auf und ab stolziert. Sei's drum. Lümmel ich mich halt zwischen all die verlorenen Seelen in einen Kinosessel. Vielleicht schlafe ich ja auch nach zehn Minuten ein und schnarche laut. Das wäre als gewaltfreier Protest ebenfalls ganz passabel.
Dann geht es auch schon los. Die Dokumentation ist komplett in Schwarz-Weiß gedreht, vermutlich damit die Jungs, die ja inzwischen auch schon alle um die 40 sind, optisch möglichst gut rüber kommen. Was soll mich schließlich schon anderes erwarten als eine weichgespülte und durchinszenierte Hochglanz-Doku über die angeblich zarteste Versuchung seit es Boybands gibt? Ich rechne mit dem Schlimmsten.
Unangenehme Sympathie
Umso irritierter bin ich, als die Kamera das erste Mal auf Mister Williams hält. Richtig scheiße schaut er da aus. Nicht nur, dass er sich offenbar wieder mal ein paar Kilos zu viel angefuttert hat, seine wirren Haare lassen auch vermuten, dass er gerade erst aus dem Bett gekrabbelt ist. Die anderen vier "Boys" kommen, wie sie da so in einem Studio in New York zusammen sitzen, nicht viel besser weg. Statt wie dem "Pray"-Video entsprungen, wirken sie wie ein paar Typen aus der Nachbarschaft. Sie rauchen und trinken Kaffee aus Pappbechern.
15 Minuten sind vergangen - und ich bin noch nicht eingeschlafen. Stattdessen dämmert mir allmählich, dass hier gerade eine ganz miese Nummer mit mir abgezogen wird. Verdammt, diese Dokumentation kommt ganz und gar nicht schrill und marktschreierisch daher, sondern ruhig und geradezu authentisch. Schlimmer noch: Nach und nach beschleicht mich ein unangenehmes Gefühl der Sympathie für die fünf Protagonisten, die nicht nur - wie die Aufnahmen wider Erwarten schnörkellos zugeben - äußerlich gealtert, sondern scheinbar auch sonst erwachsen geworden sind.
Ab zur Therapie
90 Minuten erlebe ich mit, wie sich Gary, Mark, Howard, Jason und Robbie - au Mann, jetzt nenne ich sie schon alle beim Vornamen - 15 Jahre nach ihrer Trennung behutsam begegnen und wieder respektvoll aneinander heran tasten. Als "Männerselbstfindungsgruppe" hat ein Kollege der "Berliner Zeitung" das Szenario beschrieben - und das trifft es. Teil der Gruppentherapie ist dabei nicht nur die Auseinandersetzung mit den Schattenseiten des einstigen Castingband-Daseins, sondern auch der Einblick in individuelle Abgründe: Robbie Williams, der über seine Drogenprobleme und Depressionen spricht. Mark Owen, der seinen Alkoholismus offenbart. Und Gary Barlow, der erklärt, wie sehr er unter den Attacken von Williams nach dessen Ausstieg bei Take That gelitten hat. So sehr, dass er sogar den Namen auf seiner Kreditkarte ändern lassen wollte, weil er den öffentlichen Spott nicht mehr ertragen konnte.
Überhaupt: Williams und Barlow. Ihr Verhältnis erweist sich in jeder Hinsicht als Dreh- und Angelpunkt: Von der Trennung bis zur Wiedervereinigung der Gruppe - und somit auch dieses Films. Wenn Barlow bedauernd zugibt, dass er Williams früher gegängelt und geschnitten hat, und wiederum Williams einräumt, dass er in den ersten Jahren seiner Solokarriere Barlow am liebsten "vernichten" wollte, dann ist das wirklich großes Kino.
Oops, habe ich das wirklich gerade gesagt? Als das Licht angeht, blicke ich leicht verschämt um mich. Bloß nichts anmerken lassen. Also räkele ich mich ein wenig, so, als wäre ich zumindest fast eingeschlafen. Am Kinoausgang liegen wie zum Hohn umsonst Poster zum Mitnehmen aus. Zahllose Frauenhände grapschen danach - ist ja klar, das kommt neben das Robbie-Plakat übers Bett. Zugleich beobachte ich mich von außen, wie mein Arm reflexartig ebenfalls nach einem Poster greift und es zusammenrollt. Ich zucke zusammen. Hilfe! Was tue ich hier? Kann mir bitte ganz schnell jemand den Weg zur nächsten Männerselbstfindungsgruppe zeigen?
Epilog
Die DVD "Look Back, don't Stare" kommt am 3. Dezember 2010 in den Handel. Vergessen Sie die Version des Streifens, die im Free TV gezeigt wurde – die war übel geschnitten und verstümmelt. Ach ja, und dann war ja da auch noch das Album "Progress", dessen Entstehung der Film dokumentiert hat und das am 19. November erschienen ist. Just zu der Zeit, in der dieser Text entstand, schnellte es in Großbritannien von Null auf Eins. Und nicht nur das: Schon jetzt ist "Progress" das bestverkaufte Album seit 13 Jahren - seit "Be here now" von Oasis. Es soll Menschen geben, die das für gerechtfertigt halten, weil Take That damit ein großes Album voller zeitloser Pop-Perlen gelungen sei. Sie erwarten jetzt aber ja wohl nicht, dass ich das zugebe, oder?
Quelle: ntv.de