"Mit 'romantisch' kann ich leben" Nur nicht normal: Evanescence
01.11.2011, 08:39 Uhr
Zurück von einer "langen Reise": Evanescence-Sängerin Amy Lee.
(Foto: Chapman Baehler / EMI Music)
Mit dem Song "Bring Me To Life" und dem Longplayer "Fallen" wurden Evanescence 2003 über Nacht zu Weltstars. Ein weiteres Album folgte 2006, dann wurde es still um die Formation, ehe vor Kurzem das schlicht "Evanescence" selbstbetitelte dritte Werk der US-Amerikaner erschien. Im n-tv.de Interview spricht Frontfrau Amy Lee über ihre Auszeit, das Comeback und ihre wirklich tiefen Gefühle.
n-tv.de: Du hast über euer neues Album gesagt: "Wir haben alle Regeln über Bord geworfen und sind diesmal voll und ganz unseren Instinkten gefolgt. Schließlich ist nichts langweiliger als Normalität." Was ist denn das Anormalste an dem Album?
Amy Lee: (lacht) Die Tatsache, dass wir alle fünf zusammen in einem Zimmer gesessen haben, von Angesicht zu Angesicht mit unseren Instrumenten, zu jammen begannen und so Songs erschaffen haben. Das ist für Evanescence tatsächlich etwas ganz Neues. Das Schreiben von Songs war für mich bisher immer etwas sehr Intimes. Bei den beiden vorherigen Alben hatte ich nur einen Mitstreiter. Auf dem ersten war es Ben (Ben Moody, neben Amy Lee Mitbegründer von Evanescence, der die Band 2003 verlassen hat, Anm. d. Red.), auf dem zweiten war es Terry (Terry Balsamo, seit 2003 Gitarrist der Band, Anm. d. Red.).
Und diesmal?
Diesmal gab es eine komplette Band mit großartigen Musikern, mit denen ich es wirklich liebe zusammenzuarbeiten. Ich habe Songs auf die unterschiedlichste Art und Weise geschrieben - einige mit Terry, einige mit Tim (Tim McCord, Bassist der Band, Anm. d. Red.), einige mit beiden zusammen und einige mit einem befreundeten Produzenten. Dann haben wir gejammt und hatten dabei einige fantastische Momente. So simpel das auch klingen mag: Das ist das Ungewöhnlichste an dieser Platte. Und ich glaube, man hört diese Energie den Songs an.
Ziemlich anormal in der heutigen Zeit ist auch, dass ihr euch nach eurem letzten Album "The Open Door" 2006 fünf Jahre Zeit für den Nachfolger gelassen habt. Was hat euch aufgehalten?
Oh, wir haben vor fünf Jahren noch nicht mit der Arbeit daran begonnen. Damals brauchte ich erst einmal eine Auszeit von Evanescence, in der ich nur ich, die normale Amy, sein und mich selbst finden konnte, ohne mit der Band identifiziert zu werden. Das hat mir wirklich gut getan. Umso mehr kann ich es heute wieder schätzen. Nichtsdestotrotz haben wir dann zwei Jahre darauf verwendet, die Songs zu schreiben und das Album aufzunehmen.
Was auch eine lange Zeit ist …
Ja, es war eine lange Reise, aber ich finde, man sollte sich die Zeit, die es braucht, um etwas Großartiges zu erschaffen, auch nehmen. Wenn man nichts Großartiges hat, um es mit der Welt zu teilen, sollte man es auch lassen. Ich glaube nicht an so etwas wie Timing. Oder daran, dass man darauf hoffen sollte, dass sich die Leute an einen erinnern. Was zählt, sind die Songs und das Album.
Du würdigst das neue Band-Gefühl bei Evanescence. Dennoch bist du ja inzwischen das letzte noch verbliebene Gründungsmitglied. Seid ihr tatsächlich eine Band oder ist Evanescence heute nicht gleichbedeutend mit Amy Lee?
Wir sind mehr eine Band als je zuvor. Ja, es stimmt, ich habe noch immer die Führung und habe großen Anteil an den Entscheidungen, den Songs und dem gesamten Auftreten der Band. Aber die Jungs bringen sich fantastisch ein und mir liegt viel daran, so viel wie möglich von ihrer Persönlichkeit einfließen zu lassen, weil wir ein tolles Team sind. Und man darf nicht vergessen: Gegründet wurde Evanescence ohnehin nur von Ben (Ben Moody, Anm. d. Red.) und mir. Insofern ist es heute nicht viel anders als 2003.
2003 - das war das Jahr, in dem euch mit "Bring Me To Life" und "My Immortal" Welthits gelungen sind und ihr auch mit eurem Debütalbum "Fallen", das mehr als 15 Millionen Mal verkauft wurde, international abgeräumt habt. Nervt es dich, damit auch acht Jahre später noch hauptsächlich in Verbindung gebracht zu werden?
Nein, gar nicht. Ich bin darauf absolut stolz. Für mich ist es ziemlich unglaublich, wenn ich zurückblicke und mir vorstelle, wie alt ich damals erst war. Als ich "My Immortal" geschrieben habe, war ich 15 oder so. (lacht) Genauso bei "Whisper" oder "Imaginary" (zwei weitere Songs auf dem Album "Fallen", Anm. d. Red.) - da waren wir in der High School. Wenn man bedenkt, wie jung wir waren, ist es unfassbar und wundervoll, dass "Fallen" so erfolgreich war. Wir spielen "My Immortal" auch heute noch bei jedem Konzert.
Hast du die Ambition, diesen Erfolg noch einmal zu wiederholen?
Nein, darum kann es nicht gehen. So wie die Musikindustrie heute ist, erwarte ich definitiv nicht, jemals wieder so viele Platten zu verkaufen. Aber was wir immer versuchen werden, ist, die beste Platte zu machen. Ich persönlich muss zum Beispiel sagen: Ich liebe "The Open Door" mehr als "Fallen". (lacht) Und unser neues Album liebe ich noch mehr.
Und man kann ja auch nicht gerade sagen, dass das neue Album nicht erfolgreich wäre. In den USA ging es direkt auf Platz 1 und in vielen anderen Ländern, darunter Deutschland, in die Top Ten …
Ja, darüber sind wir total glücklich. Und ich bin auch ehrlich überrascht davon. Wir waren ja nun doch eine Zeit lang von der Bildfläche verschwunden. Es ist echt bewegend für mich, zu sehen, dass unsere Fans noch immer da sind und uns die Treue halten.
Trotzdem noch einmal ein Blick zurück. Euer Gitarrist Terry Balsamo erlitt 2005 mit gerade einmal 33 Jahren einen Schlaganfall. Wie geht es ihm heute?
Es geht ihm gut. Auf jeden Fall. Okay, er feiert nicht mehr so wie früher - was aber gut ist. (lacht) Terry ist ein Mysterium. Als er den Schlaganfall hatte, sagten die Ärzte, er würde nie mehr Gitarre spielen können. Er weigerte sich einfach, darauf zu hören. Er fragte nach einer Gitarre, noch bevor er das Krankenbett wieder verlassen hatte. Wir mussten ihm echt seine Gitarre ins Krankenhaus bringen. Ich liebe Terry wirklich. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn er damals gestorben wäre.
Stimmt es eigentlich, dass er den Schlaganfall vom Headbangen bekommen haben soll?
Ja, die Ärzte sagten, der Schlaganfall sei auf eine gerissene Arterie im Nacken zurückzuführen, die beim Headbangen entstanden sein muss. Terrys Haar ist wirklich lang und schwer.
Das klingt nur so unfassbar …
Ja, das stimmt. Aber das ist, was die Ärzte gesagt haben. Das ist kein Gerücht.
Zurück zu eurem Album. Ich habe eine deutsche Kritik darüber gelesen mit der Überschrift: "Der perfekte Soundtrack für 'Twilight'". Kannst du dem zustimmen?
(lacht) Ich weiß nicht. Aber ich glaube, die sehen das nicht so. Wir wurden dafür auf jeden Fall noch nicht angefragt. Allerdings denke ich, dass unsere Musik, das Epische und Dramatische darin, sehr gut zu manchen Filmen passen würde. Wir halten da auch immer die Augen nach passenden Möglichkeiten der Zusammenarbeit auf.
Die Assoziation mit "Twilight" rührt ja vielleicht auch daher, dass viele euch in der Vergangenheit der Gothic-Szene zugeordnet haben. Das hast du aber stets zurückgewiesen. Warum?
Nun ja, weil das nicht wirklich ich bin. Und mir ist das zu simpel. Nur weil ich schwarzen Eyeliner trage, macht mich das noch nicht Goth. Und auch nicht unsere Musik. Die ist wirklich komplex. Wir haben Metal-Elemente darin, aber auch Rock, Alternative, Industrial, Elektro und Klassik spielen eine wichtige Rolle. Mir fällt echt keine einzige Goth-Band ein, die ich mir anhören würde. Insofern würde ich mich wirklich ungern selbst in diese Schublade stecken. Aber es stimmt sicher, dass wir viele gleiche Fans haben, die wahrscheinlich auch Fans von "Twilight" sind. (lacht)
Gerade in Europa ist der sogenannte Gothic Metal sehr erfolgreich mit Bands wie HIM, Within Temptation oder Paradise Lost. Dem fühlt ihr euch gar nicht zugetan?
Nein, das ist alles nicht wirklich mein Style. Okay, HIM finde ich ganz cool.
Als eines deiner größten musikalischen Vorbilder hebst du stattdessen stets Björk hervor. Aber, mal ehrlich, die jüngsten Sachen von ihr kann man sich nur schwer anhören …
Ja, stimmt, das ist schon echt anders als früher. Ihre Musik war schon immer experimentell, ausschweifend und etwas verrückt. Aber sie macht mehr und mehr ihr ganz eigenes Ding. Trotzdem: Die erste Single aus ihrem neuen Album, Crystalline, mag ich wirklich sehr.
Was für Musik gefällt dir sonst gerade?
Oh, ich liebe zum Beispiel Massive Attack. Sie haben vor etwa eineinhalb Jahren ein echt cooles Album herausgebracht. Außerdem bin ich ein riesiger Portishead-Fan. Sie haben sich für ihr Album "Third" ja ein ganzes Jahrzehnt Zeit gelassen. Als das rauskam, war ich ganz aus dem Häuschen. Ich finde, sie haben damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Es klingt immer noch wie Portishead, aber mit neuen, verrückten Elementen wie einer Ukulele. In jüngster Zeit fallen mir außerdem noch die Foo Fighters ein und das neue Jane's-Addiction-Album, das gerade erschienen ist.
Zugleich hast du ja ein großes Faible für Klassik. Hast du einen Lieblingskomponisten?
Wenn ich mich entscheiden muss, dann Mozart.
Das passt natürlich auch ganz gut zu der Musik von Evanescence, die ja auf jeden Fall auch ziemlich melancholisch und romantisch ist. Würdest du dich selbst als romantische Person bezeichnen?
Auf jeden Fall. Mit "romantisch" kann ich leben. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen, dass unsere Musik zutiefst leidenschaftlich ist. Deswegen ist sie so episch und deswegen würde sie sich so gut als Filmmusik eignen. Die Musik ist mein Ventil, weil ich sonst ein ziemlich ausgeglichener und "normaler" Mensch bin. Hier kann ich wirklich tiefe Gefühle zum Ausdruck bringen.
Ich weiß, du bist verheiratet. Trotzdem: Was findest Du romantisch? Was müsste ein Mann tun, um dein Herz zu öffnen?
Ohhh … Ich glaube, ich finde es schon toll, wenn er mir das Gefühl gibt, sich um mich zu kümmern. So dass ich mich nicht immer für alles verantwortlich fühlen muss. Jemanden zu haben, der einem hilft und einen unterstützt - das ist wundervoll.
Also ist es nicht das Candlelight-Dinner …
Ach, weißt du was: Das nehme ich noch dazu.
Mit Amy Lee sprach Volker Probst
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Evanescence befinden sich im November 2011 in Deutschland auf Tour: Offenbach am Main (17.11.), Düsseldorf (18.11.), Berlin (20.11.), München (21.11.)
Quelle: ntv.de