Freundschaft im Faschismus "Malnata" lehrt das Aufbegehren
25.05.2024, 13:57 Uhr Artikel anhören
Auf dem Cover der deutschen Ausgabe ist ein Ausschnitt eines der bekanntesten Bilder der Antimafia-Fotografin Letizia Battaglia zu sehen.
(Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb)
Angeblich passieren in Gegenwart von Maddalena schlimme Dinge, doch Francesca ist magisch von ihr angezogen. In "Malnata" erzählt Beatrice Salvioni von einer Freundschaft zur Zeit des Faschismus, von Ängsten, Mut und weiblichem Aufbegehren - und lässt Erinnerungen an Ferrante wach werden.
"Es ist nicht leicht, sich vom Körper eines Toten zu befreien. Ich war zwölf, als ich das entdeckte, mir lief das Blut aus Nase und Mund, und die Unterhose hatte sich um meine Knöchel gewickelt." Der Einstieg, den Beatrice Salvioni für ihren Debütroman "Malnata" wählt, ist drastisch: Zwei verletzte und durchnässte Mädchen bieten ihre ganze Kraft auf, um am Ufer des Lambro in Monza in der Lombardei eine Leiche zu verstecken. Am Jackenrevers des jungen Mannes funkelt eine Anstecknadel mit der Trikolore und dem Rutenbündel der Faschisten.
Der Roman spielt Mitte der 1930er-Jahre zur Zeit des Faschismus, gerade startet Italien in Abessinien, dem heutigen Äthiopien, seinen kolonialen Eroberungskrieg. Die Freundschaft von Maddalena und Ich-Erzählerin Francesca beginnt einige Monate vor der Eingangsszene, und zwar heimlich: "Sie hatte den Teufel im Leib, und ich sollte auf keinen Fall mit ihr sprechen."
Maddalena wird in der Stadt "Malnata" genannt, die Unheilbringende, weil in ihrer Gegenwart angeblich schlimme Dinge passieren - man erzählt sich Schauergeschichten vom Tod ihres kleinen Bruders, ihres Vaters und der schweren Verletzung einer Lehrerin. Wenn sie ihr auf der Straße begegnen, schlagen Frauen das Kreuz und Männer spucken auf den Boden, "die Malnata streckt ihnen dann die Zunge raus und lacht die Beleidigungen einfach weg". Von ihrer Mutter wird die Tochter ignoriert, sie legt bei jeder Mahlzeit einen Teller und einen Löffel zu wenig auf den Tisch.
Während Maddalena im sechsten Stock eines Mietshauses wohnt, sich dort ein Zimmer mit ihren älteren Geschwistern teilt und das Klo ein Loch im Keramikboden ist, wächst Francesca in einer bürgerlichen Familie mit Dienstmädchen auf. Der Vater ist Hutfabrikant und selten zu Hause. Die Mutter träumte früher von einer Karriere als Schauspielerin und verbringt nun ihre Zeit damit, die Rolle der modisch herausgeputzten Dame zu spielen. Nachmittags verschwindet sie oft zum Einkaufen und kehrt mit leeren Taschen und zerzaustem Haar zurück.
Zwei Welten treffen aufeinander
Für Francesca besteht die Welt aus Regeln und, weil sie ein Mädchen ist, besonders aus Verboten, gute Manieren zählen mehr als Bildung. Manchmal klettert Francesca in den Kleiderschrank und schreit zwischen den sauberen Hemden des Vaters ihre Wut heraus, danach fühlt sie sich etwas besser, aber nur kurz. Von der ungehorsamen Maddalena wird sie magisch angezogen und beobachtet sie dabei, wie sie barfuß, mit hochgerafftem Rock und schlammverschmierten Beinen am Lambro spielt, gemeinsam mit zwei Jungen - der eine ist der Sohn eines Kommunisten, der andere der Sohn des angesehensten Faschisten von Monza.
"In der Welt der Malnata wetteiferte man darum, von Katzen gekratzt zu werden, Schmerz leckte man sich einfach zusammen mit dem Blut von der Haut." Um auch aufgeschürfte Beine zu haben wie die drei, drückt Francesca ihr Knie während der sonntäglichen Messe auf einen Nagel, der aus der Gebetsbank herausragt, und scheuert sich daran blutig. Sie ist fasziniert von Maddalenas Welt, "in der man nicht spielen konnte, jemand anders zu sein, in der man Männern und Jungen in die Augen sah, wenn man mit ihnen sprach. Ich beobachtete ihre Welt vom Rande aus. Und ich konnte es kaum abwarten, mich ganz hineinfallen zu lassen."
Als Maddalena beim Obsthändler Kirschen stibitzt und Francesca für sie lügt, werden die beiden Freundinnen. Immer wieder schafft es Francesca, sich unter einem Vorwand von zu Hause davonzustehlen und Zeit mit Maddalena zu verbringen. Von ihr lernt sie, Fische zu fangen und Eidechsen den Schwanz abzubrechen. Und sie lernt, sich mutig Ungerechtigkeiten entgegenzustellen, Solidarität zu leben und wie gefährlich und mächtig Worte sein können.
"Malnata" ist die Geschichte eines Erwachsenwerdens vor dem Hintergrund eines gewaltsamen Regimes, das kritisches Denken unterdrückt und in dem Sexismus und männlicher Machtmissbrauch gegenüber Frauen zum Alltag gehören. Schon Jungen wird beigebracht, dass sie über weibliche Körper verfügen können und Frauen sich ihnen zu unterwerfen haben. Das müssen sowohl die ältere Schwester von Maddalena als auch Francesca erleben.
Aus Verletzlichkeit wird Rebellion
Besonders mit Maddalena hat Salvioni eine anrührende Figur entwickelt, die ihre Verletzlichkeit in Rebellion verwandelt hat. Ein Mädchen mit schief geschnittenen Haaren und Trotz im Blick, das von der Gesellschaft ins Abseits gedrängt wird, sich aber nichts sagen lässt, widerspricht, selbstbestimmt handelt und vor niemandem Angst hat. Und das durch die Todesfälle in ihrer Familie Traumata mit sich herumträgt.
In Italien ist Salvionis "Malnata" wiederholt mit "Meine geniale Freundin" von Elena Ferrante verglichen worden. Tatsächlich erinnert von der Anlage her vieles an den ersten Band der Trilogie, der von Kindheit und Jugend der unberechenbaren Lila und der braven Lenù erzählt. Auch dort bilden der Faschismus - in dem Fall sind es die Nachwirkungen - und männerdominierte Strukturen den politisch-sozialen Rahmen. Allerdings ist die Freundschaft der ungleichen Mädchen bei Ferrante wesentlich komplexer und ambivalenter.
Salvioni nutzt die unterschiedlichen Herkünfte ihrer Protagonistinnen geschickt, um zwei gesellschaftliche Haltungen zu spiegeln: Die Familie von Francesca tut alles, um bei den Faschisten der Stadt zu glänzen. In die Partei ist der Vater nur aus Bequemlichkeit eingetreten, "er hätte sich auch der Kunstturngruppe der Damen oder dem Nähkreis angeschlossen, wenn ihm das geholfen hätte, mehr Hüte zu verkaufen". In Maddalenas Familie hingegen wächst die antifaschistische Stimmung. Anders als die Söhne hochrangiger Parteimitglieder muss ihr Bruder in den Krieg von Mussolini ziehen, an beide glaubt er nicht. Maddalena löst daraufhin einen Eklat aus, als sie sich weigert, beim Morgenappell für "den Duce" aufzustehen, den zu lieben die Kinder von klein auf eingetrichtert bekommen.
Melodiös und rhythmisch
Zu Ferrante gibt es übrigens nicht nur eine thematische Verbindung. Anja Nattefort hat einige ihrer frühen Romane ins Deutsche übertragen und nun auch "Malnata" übersetzt. Sie hat dafür eine sehr lebendige, ideenreiche Sprache gefunden und schafft es, selbst im Deutschen manchmal ein wenig der italienischen Melodiösität zu bewahren. Und das leitet nahtlos zur Hörbuchversion über, die Rike Schmid, um im musikalischen Bild zu bleiben, teilweise sehr rhythmisierend eingesprochen hat. Wie schon bei anderen von ihr eingelesenen Büchern fesselt das charakteristische, dunkle Timbre ihrer Stimme und macht es unmöglich wegzuhören.
Was genau sich während und nach dem eingangs zitierten Vergewaltigungsversuch am Lambro zugetragen hat, sei hier nicht aufgelöst. Nur so viel: Am Ende wollen die beiden Freundinnen nicht mehr schweigen und männliches Dominanzgebaren einfach hinnehmen. "Erwachsen und eine Frau zu sein, bedeutete vielleicht genau das: Es hatte nichts mit dem Blut zu tun, das einmal im Monat kam, auch nichts mit den Bemerkungen der Männer oder mit schönen Kleidern", resümiert Francesca. "Eine erwachsene Frau zu sein, bedeutete, einem Mann, wenn er sagte: 'Du gehörst mir', in die Augen zu sehen und ihm zu antworten: 'Ich gehöre niemandem'."
Quelle: ntv.de