35 Jahre Mauerfall "Die DDR war kaputt, da war nichts mehr zu retten"
09.11.2024, 08:13 Uhr Artikel anhören
Am Fortbestand des Klosters Alexanderdorf gab es trotz Krieg und zwei Diktaturen nie ernsthafte Zweifel.
(Foto: Rocco Thiede)
Vor 35 Jahren, am 9. November, fiel die Mauer. Wie zwei Nonnen diese Zeit erlebten und was es bedeutete, katholisch in der DDR zu sein, erfährt unser Autor im brandenburgischen Alexanderdorf. Mit den beiden spricht er über Wende, Erwartungen und Wiedervereinigung.
Schwester Elisabeth ist ein Kriegskind. Sie hat noch die Not und Entbehrungen der Nachkriegszeit erleben müssen. Elisabeth Neumann, eine 80-jährige Nonne, erzählt: "Ich bin noch in Schlesien geboren. Meine Mutter ist mit mir im Januar 1945 über Dresden geflüchtet, wir haben dort die Bombennächte überlebt. Wir mussten dann die Stadt verlassen und meine Mutter ist mit mir als Baby zu Fuß nach Thüringen gewandert, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt." Sie ist eine Zeitzeugin, wie ihre Kollegin Ruth Lazar, denn beide Frauen haben die katholische Kirche und das Leben als Katholikinnen in der DDR erlebt. Die politische Wende, die friedliche Revolution, den Mauerfall vor 35 Jahren und die deutsche Wiedervereinigung erreichten sie im Kloster.
Dort, wo sich heute die Abtei St. Gertrud mit dem Kloster Alexanderdorf befindet, gab es nicht schon immer ein Kloster: Einst ein typischer, Brandenburger Gutshof mit Herrenhaus und Wirtschaftsgebäuden, haben sich nach dem Ersten Weltkrieg 1919 junge katholische Frauen in Berlin zusammengefunden, um dort christliche Krankenpflege zu lernen. 1924, genau vor 100 Jahren, erfolgte die Anerkennung als St. Hildegard-Schwesternschaft. Gut zehn Jahre später stand der Entschluss zur Gründung eines Klosters fest. Vor 40 Jahren, also 1984, erfolgte die Errichtung des Klosters zur Abtei - etwas Besonderes in der DDR. Am 1. September weihte der damalige Berliner Bischof, Joachim Kardinal Meisner, den Altar und die Klosterkirche St. Gertrud. Fünf Jahre später fiel die Mauer.
"Vor dem Mauerfall ist unser Gästehaus sehr gerne von Familien und Familienkreisen aus dem katholisch-kirchlichen Umfeld genutzt worden. Jetzt sind es mehr Individualgäste oder Gruppen, die gezielt Angebote bei uns suchen", sagt Schwester Ruth beim Besuch von ntv.de in Alexanderdorf. "Es hat sich so ergeben, dass ich hier die Öffentlichkeitsarbeit mache. Außerdem begleite ich Gäste in geistlichen Übungen und in Einzelgesprächen. Zudem bin ich Cellerarin im Kloster, das heißt für Wirtschafts- und Verwaltungsfragen und für unsere Klosterbibliothek zuständig", beschreibt sie ihren Arbeitsalltag. Die Angebote des Klosters wie Meditationen, Origami- oder Fastenkurse sowie Ikonenmalerei werden von den Gästen gern angenommen.
"Ora et Labora"
Brandenburg ist mit weniger als drei Prozent Katholiken eine klassische Diaspora. Am Fortbestand des Klosters Alexanderdorf gab es trotz Krieg und zwei Diktaturen nie ernsthafte Zweifel. "Diese Zeiten sind - Gott sei Dank - vorbei und dem Kloster ist in der Nazi- und in der DDR-Zeit nichts passiert. Wir sind behütet und bewahrt geblieben", berichtet Schwester Ruth.
Wie Schwester Elisabeth als junge Frau Kirche in der DDR erlebte, schildert sie so: "Katholisches Leben war mit viel Freude am Glauben, aber auch vom Spaß beim Miteinander geprägt. Sicher, man musste in der Schule etwas vorsichtig sein, was man sagte, aber wir waren durch unseren Glauben gegen die herrschende Ideologie, die uns in der DDR auferlegt wurde, gut gewappnet". Im Kloster Alexanderdorf war Elisabeth viele Jahre für die Gästebetreuung die Ansprechpartnerin. Heute sitzt sie an der Pforte. Besucher können neben dem Stundengebet - fünfmal am Tag - und dem Feiern der Heiligen Messe auch in der Küche, bei der Reinigung des Gästebereiches oder im Garten mithelfen.
"Die undankbare Tochter"
Im südlichen Thüringer Wald in Trusetal wuchs Elisabeth Neumann auf. Ihr Vater kehrte nie aus dem Zweiten Weltkrieg zurück. Ihre katholische Mutter lernte später einen atheistischen Lehrer kennen und entfernte sich vom christlichen Glauben. Dennoch konnte Elisabeth in der katholischen Gemeinde, die nur aus Flüchtlingen bestand, ihre Erstkommunion feiern. Als Kind und Jugendliche verlor sie, trotz des antireligiösen Elternhauses, nicht ihre Glaubensgewissheit und trat mit 36 Jahren bei den Benediktinerinnen ins Kloster ein: "Gott war für mich eine Wirklichkeit, ich konnte mich in allen Situationen immer an ihn wenden."
Es war vorrangig der Wunsch ihrer Mutter, dass sie einmal Lehrerin werden soll. Erst wurde sie abgelehnt, konnte dann aber doch am Lehrerinstitut in Meinigen anfangen: "Meine Mutter hat für mich gekämpft. Sie ist als junge Frau schon in die SED eingetreten, das hat geholfen. Sie, die treue Genossin, während ich, aus ihrer Sicht, eine undankbare Tochter war, die stur an der Kirche festhielt."
Sozialistisches Kollektiv mit Brigadetagebuch
Das war Anfang der 60er-Jahre, als sich die politischen Verhältnisse zwischen den beiden deutschen Staaten verschärften. Es kam der 13. August 1961, mit dem Mauerbau. Als das neue Studienjahr im September anfing, zeigte eine Mitstudentin Elisabeth an, weil sie in den Semesterferien kirchliche Kurse besucht hatte. Am Ende wurde sie exmatrikuliert "und als Bewährung in einen sozialistischen Produktionsbetrieb geschickt, wo ich dann im Akkord Bleche für Mistgabeln stanzen musste".
Elisabeth Neumann ging ihren Weg und machte in Erfurt eine Ausbildung zur Krankenschwester - natürlich in einem katholischen Krankenhaus. Über die dort arbeitenden Ordensfrauen fand sie erneut Kraft für ihre spätere Berufung als Nonne: "Die Sehnsucht wuchs immer größer. Aber ich merkte, dass der Beruf als Ordensfrau in einem tätigen Orden für mich etwas schwierig gewesen wäre. Ich wollte vollkommen frei sein für das Gebet und ganz für Gott da sein." So suchte sie einen kontemplativen Orden, den sie durch einen Jugendkaplan in Kloster Alexanderdorf fand. Aber es sollte noch zehn Jahre dauern, bis sie ins Kloster eintrat.
Elisabeth arbeitete als Krankenschwester, zwischendurch als Jugendreferentin bei der Kirche und dann zwölf Jahre in der Medizinischen Akademie in Erfurt: "Wir waren in der Kardiologie eine sehr christliche Station. Der Stationsarzt war katholisch und ich hatte dort mehrere katholische Mitschwestern." Lachend und kopfschüttelnd sagt sie über diese Zeit: "Dennoch waren wir ein sozialistisches Kollektiv mit Brigadetagebuch."
"Eine normale DDR-Kindheit"
Ganz anders verlief der Weg der eine Generation jüngeren Ruth Lazar, einer gebürtigen Ostberlinerin. Aufgewachsen in einer katholischen Familie, habe sie "eine normale DDR-Kindheit und Jugendzeit gehabt und eine sehr lebendige christliche Gemeinde und Pfarrjugend erlebt". Ihr Vater war in einer leitenden Position in einem wissenschaftlichen Institut, Mitglied der CDU-Ost und war Mandatsträger in der Berliner-Stadtverordnetenversammlung. "Wir hatten gewisse Freiheiten und Vater stärkte uns vier Töchtern den Rücken, wenn wir in der Polytechnischen Oberschule mal angezählt wurden, weil wir in der Kirche sind und manches nicht mitmachten."
Der Raum der Kirche bot ihr und den Schwestern Heimat und Schutz. Nur auffallen und provozieren durften sie nicht, das wurde ihnen von den staatlichen Stellen der DDR unmissverständlich klargemacht. So war es für die junge Ruth unproblematisch, bei den Jungen Pionieren einzutreten.
Beeinflusst habe sie als 13-Jährige 1973 die Internationalen Weltfestspiele in Ost-Berlin. Mit Konsequenzen: "Ich war für ein gutes Jahr ziemlich beeindruckt von der FDJ, dem Sozialismus und dem Freiheitskampf der Kommunisten in anderen Ländern." Erst durch ihre Firmung fand sie wieder zur katholischen Gemeinde zurück. Für Ruth Lazar ging es nach der Schule mit einer Ausbildung als Erzieherin weiter und sie arbeitete vier Jahre in einer katholischen Kita als Kindergärtnerin. Für sie war damit "diese Indoktrination der DDR in der Bildung beendet".
Der Tag, an dem die Mauer fiel - "ein Wunder"
Den 9. November 1989, der Tag, an dem die Mauer fiel, erlebten beide Nonnen im Kloster, wo es keinen Fernseher gab. "Einige Schwestern durften Radio hören", erinnert sich Schwester Ruth: "Die Menschen waren immer weniger bereit, sich in dieses System zu fügen, sie wollten Reisefreiheit. Dann kamen das Massaker in Peking und die großen Montags-Demonstrationen in Leipzig." Proteste in Alexanderdorf liefen anders ab: "Wir haben viele christliche, katholische Nachbarn hier in unserem kleinen Dorf, die haben sich jeden Abend bei uns in der Klosterkirche versammelt und Rosenkranz um Rosenkranz gebetet, dass alles friedlich bleibt." Für Schwester Ruth war der Mauerfall "ein Wunder". Sie erinnert sich an die Geistlichen, die gerade zu Besuch waren, "sie sangen aus vollem Hals 'Großer Gott wir loben dich'".
Als Schwester Elisabeth im Februar 1990 vor dem Brandenburger Tor stand, kam sie nicht auf die Idee, durch das Tor zu gehen. Das erste Mal im "Westen" war Schwester Elisabeth ein Jahr später, als sie für drei Monate im Tochterkloster Dinklage in Niedersachsen aushalf. Sie fühlte sich dort als "Exotin", für ihre westdeutschen Mitschwestern, war "die DDR weiter weg als China".
Gab es nach den neuen Freiheiten und Möglichkeiten durch den Mauerfall später keinen Kontakt zur damaligen Gauck-Behörde, um so das Thema Kirche und Stasi aufzuarbeiten? Sie hat ihre Unterlagen nicht angefordert, erklärt Schwester Elisabeth, "irgendwie hatte ich ein mulmiges Gefühl und Angst, weil ich oft sehr spontan geredet habe. Schließlich war überall und immer ein IM (Inoffizieller Mitarbeiter, Anm. d. Red.) mit dabei." Sie befürchtet auch, dass Menschen sie "beschattet haben, die ich sehr schätze. Ich möchte es lieber nicht wissen".
"Horch und Guck"
Auch Schwester Ruth hat ihre Stasi-Unterlagen bis heute nicht angefordert. "Eigentlich wusste man, dass immer irgendwer horcht und guckt. Uns war klar, dass die Stasi neben kirchlichen Einrichtungen immer jemanden platzierte, der aufpasste".
Bleibt zum Abschied die Frage, ob es für die Nonnen Alternativen zur historischen Entwicklung gegeben hätte: Schwester Elisabeth zögert kurz und bekennt: "Ich war ehrlich nicht begeistert, dass wir wiedervereinigt wurden. Ich habe damals mehr diese Bürgerrechtsbewegung unterstützt, die einen sozialistischen Staat mit humanistischem Gesicht propagiert, Bärbel Bohley zum Beispiel. Heute weiß ich, dass das unrealistisch war. Die DDR war kaputt. Da war nichts mehr zu retten und das war die einzige Möglichkeit, weiterzuexistieren."
Schwester Ruth verkündet mit fast historischen Worten: "Für mich war dieser Weg, der dann in einer rasanten Schnelligkeit zur Wiedervereinigung geführt hat, sehr folgerichtig. Ich war damit voll einverstanden. Ich weiß noch, dass ich am 3. Oktober das sehr, sehr starke Gefühl hatte: Erst jetzt ist der Krieg vorbei."
Quelle: ntv.de