Klimakleber vor Gericht "Aber dürfen Sie Autofahrer in Geiselhaft nehmen?"


Der Angeklagte Metzeler-Kick bei einer Demonstration vor einer Woche in München.
(Foto: IMAGO/aal.photo)
Das Amtsgericht Tiergarten verhandelt drei Straßenblockaden der Letzten Generation. Auf der Anklagebank sitzt ein Dauerstörer. Ein Prozesstag zwischen Ratlosigkeit und Verständnisanflügen.
Die bonbongroße Brandblase am rechten Mittelfinger ist noch frisch, ein offen getragenes Überbleibsel der Klebeaktion auf der A100 am Dienstag. Sekundenkleber und Betonsand reagieren miteinander, es ist heiß geworden. Ein Kollateralschaden für Wolfgang Metzeler-Kick, genauso hinnehmbar wie die dreijährige Haftstrafe, mit der er unterm Strich rechnet. Um die 70 Verfahren habe er "an der Backe", weil er Pipelines abdreht, Grünen-Parteitage aufmischt, Bundesliga-Spiele stürmt, den BER lahmzulegen versucht. Und weil er auf Straßen klebt. Mit Letzterem befasst sich am Donnerstagvormittag das Amtsgericht Tiergarten in Berlin.
Im Verhandlungsraum erschwert die Jalousie der Sonne das Durchkommen, Sirenengekreische und Glockengebimmel haben es durch das offene Fenster leichter. Verhandelt werden drei Protestaktionen an Berliner Autobahnausfahrten im Januar 2022. Was damals noch neu war, gehört längst zum Tagesgeschäft der Letzten Generation, so gewöhnlich und im Ablauf verwandt, dass die Staatsanwältin zunächst den falschen Strafbefehl aus dem Ordner fischt und verliest, ohne es zu bemerken. Im zweiten Anlauf bleibt der Vorwurf der gleiche: Nötigung.
Im Akkord leiten deutsche Staatsanwaltschaften Verfahren gegen Aktivistinnen und Aktivisten der Letzten Generation ein, allein in Berlin sind es knapp 1800 Fälle. Rund 90 Urteile wurden bereits gesprochen, in der Regel kassierten die Angeklagten Geldstrafen. Ende April sprach ein Gericht erstmals eine Haftstrafe ohne Bewährung aus. Die Aktivistin hatte sich in der Berliner Gemäldegalerie an ein Werk des Renaissance-Malers Cranach geklebt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Hungerstreik fürs Klima
Gefängnisstrafen hält Metzeler-Kick für "lächerlich im Vergleich zu dem, was uns als Menschheit droht". Der 48-Jährige hat seinen Job als Umwelt-Ingenieur eingetauscht gegen ein Leben als Intensivstörer. Im November wurde er von der bayerischen Justiz vorübergehend aus dem Verkehr gezogen: Präventivhaft in der JVA Stadelheim. Eine rechtlich umstrittene Maßnahme, die keine begangene Tat bestraft, sondern künftige verhindern soll. Metzeler-Kick antwortete auf seine Weise - mit einem Hungerstreik. 16 Tage lang will er nichts gegessen haben.
Metzeler-Kick sucht den großen Auftritt - und macht auch das Amtsgericht zu seiner Bühne. Der hochgewachsene Mann spricht ein lautes Deutsch mit bayerischem Einschlag, verstanden fühlt er sich nicht. "Ich möchte die Faktenlage einmal als Prosa darlegen, um das Ausmaß des Versagens der Bundesregierung darlegen zu können", sagt er in seiner Prozesserklärung. Er spricht in Zahlen und Anekdoten, von 1,5-Grad-Ziel, Kippunkten, Völkerrecht. Wer will, bekommt ein Quellenverzeichnis. Richter Hethey resümiert: "Das waren allgemeine Ausführungen zur Klimakrise. Es geht aber um ein Verkehrsgeschehen."
Die Teilnahme an den Blockaden räumt der Angeklagte reuelos ein. Vom Tisch ist die Sache damit nicht. Wie das Gesetz eine Klimaklebeaktion würdigt, hängt maßgeblich von ihrer Wirkung ab, von Dauer und Staulänge und möglichen Rettungsgassen. Anwalt David Hölscher bezweifelt gar den Tatvorwurf der Nötigung, schließlich hätte das Gericht keine Geschädigten ausmachen können, die vier Zeugen sind allesamt Polizeibeamte.
Zeuge Nummer eins gerät gleich ins Schwitzen. Als sich mehrere Aktivistinnen und Aktivisten am 26. Januar des Vorjahres mitten auf die Autobahnausfahrt am Wolfensteindamm setzten, war er als einer der ersten Einsatzkräfte vor Ort. "Könnte es sich dabei um eine Versammlung gehandelt haben?", fragt Anwalt Hölscher. Er will auf die Versammlungsfreiheit hinaus, die grundsätzlich auch Straßenblockaden genießen. Der Beamte bejaht, dann wird es unübersichtlich. Hölscher meint, Widersprüche zwischen Aussage und Einsatzprotokoll erkannt zu haben. Wer hat die Versammlung wann aufgelöst? Das ist nicht ganz klar. Hölscher legt dem Richter nahe, den Zeugen "über Paragraph 55 zu belehren" - das Auskunftsverweigerungsrecht, ein Notfallknopf für Zeugen, um sich nicht selbst zu belasten. Richter Hethey hat genug gehört, der Beamte darf gehen.
"Es tut mir leid"
Ein Polizist gibt an, bei einer Blockade auf dem Sachsendamm nur fünf Minuten vor Ort gewesen zu sein. Er wurde eigentlich zu einem anderen Fall gerufen, mutmaßliche Vergewaltigung. Als er den Raum verlässt, spricht Metzeler-Kick ihn an: "Es tut mir leid, dass wir Vorrang bei einer Vergewaltigung waren." "Ja, das ist aber leider so, dass Kräfte bei so was gebunden sind."
Die Aussagen der Beamten zeugen auch von einer Hilflosigkeit im Umgang mit der Letzten Generation. Nachdem die Aktivisten vom Kleber befreit waren, erzählt ein Einsatzleiter, "haben die zu mir gesagt: 'Wenn die Polizei geht, dann werden wir uns sofort wieder hierhin setzen'". Ein Anschlussgewahrsam lehnte eine Richterin ab. "Da stand ich da." Nach der Identitätsfeststellung hätte er die Aktivisten ziehen lassen müssen, "in der Hoffnung, dass sie nicht mehr auf die Fahrbahn gehen".
Es kann Produkt dieser Hilflosigkeit sein, dass die Generalstaatsanwaltschaft München am Mittwoch die juristische Brechstange ausgepackt hat. Dort sieht man bei der Letzten Generation den Anfangsverdacht einer kriminellen Vereinigung und hat 15 Wohnungen von Aktivistinnen und Aktivisten in sieben Bundesländern durchsuchen lassen. Auch seine Freundin sei betroffen gewesen, sagt Metzeler-Kick in einer Verhandlungspause. Er glaubt, die Razzia hätte eigentlich ihm gegolten. Demnach wurden Speicherkarten, Festplatten, Flipcharts und alte Plakate beschlagnahmt. Ob das Münchner Vorgehen überzogen ist, daran scheiden sich die Geister der Experten. Eine neue Eskalationsstufe im Konflikt Staat gegen Letzte Generation ist es allemal.
Der Rechtsstaat soll es richten
Der Konflikt wird auch durch das emotionale Echo auf die Aktionen befeuert - Wut bei den einen, Nachsicht bei den anderen -, wobei die juristische Einordnung schwerer fällt. Die Trennlinie zwischen zivilem Ungehorsam und Kriminalität verläuft oft unscharf. Das zeigen die unterschiedlichen Bewertungen ähnlicher Protestaktionen durch Richterinnen und Richter. Über allem schwebt der Rechtsstaat, der sich "nicht auf der Nase herumtanzen lässt", wie Bundesinnenministerin Nancy Faeser die Razzia kommentierte. "Wir glauben an den Rechtsstaat", kommentierte indes die Letzte-Generation-Sprecherin Aimée van Baalen.
Im Amtsgericht Tiergarten ist der Rechtsstaat etwas ratlos. Zum konkreten Tatvorwurf konnten die Zeugen kaum etwas beisteuern, der Richter hält weitere Vernehmungen für notwendig. Auch beim Klimakleben muss die Nötigung erst nachgewiesen werden - und das mit Blick auf Revisionen möglichst wasserdicht. Das Urteil ist vertagt.
Zum Abschluss Versöhnliches. "Ich bin da ganz bei Ihnen, was die Klimakrise oder das Klimadesaster ist", sagt Richter Hethey, die Staatsanwältin pflichtet bei. "Das Ziel ist ein Überragendes. Aber dürfen Sie dafür Autofahrer in Geiselhaft nehmen?" Metzeler-Kick weicht aus, trommelt bei den Anwesenden lieber für den kollektiven Anschluss zum zivilen Ungehorsam. "Sind sie sich alle der Konsequenzen ihres Nicht-Handelns bewusst?", ruft er in den Raum. Darauf wolle er nicht antworten, sagt der Richter.
Quelle: ntv.de