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Wie Nazitäter entkommen konnten Berliner Ensemble bringt "Rattenlinie" auf die Bühne

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Auch Adolf Eichmann floh über die Rattenlinie nach Südamerika. 1961 wurde er in Israel zum Tode verurteilt und im folgenden Jahr hingerichtet.

Auch Adolf Eichmann floh über die Rattenlinie nach Südamerika. 1961 wurde er in Israel zum Tode verurteilt und im folgenden Jahr hingerichtet.

(Foto: imago images/Everett Collection)

Nach dem Zweiten Weltkrieg flohen zahlreiche Verbrecher des NS-Regimes über die sogenannte Rattenlinie, meist nach Südamerika. Die Frage, wie das gelingen konnte, beleuchtet eine Inszenierung im Berliner Ensemble.

Es gibt Fragen, die vielleicht nie abschließend beantwortet werden können. Weil sie so grauenvoll, so unvorstellbar sind, dass sie einem von vornherein den Atem nehmen und jede Antwort nur noch mehr Fragen aufwirft. Eine dieser Fragen ist: Wie konnte es während des Zweiten Weltkrieges zum Holocaust kommen? Wie zur Verfolgung, Deportation und Ermordung von Millionen europäischer Juden und Jüdinnen? Seit 1945 suchen Historiker, Juristen, Politiker, Künstler und viele andere nach Antworten darauf. Wer war beteiligt, wer trägt die Schuld, wer hat einfach weggeguckt und warum? In aufsehenerregenden Kriegsverbrechertribunalen wurden und werden bis heute die Täter zur Rechenschaft gezogen. In den Nürnberger Prozessen und später auch anderswo wurden viele Täter verurteilt. Aber längst nicht alle. Daraus resultiert unweigerlich die Frage: Wie konnten sich Verantwortliche der Justiz entziehen? Die Antwort darauf führt unter anderem in den Vatikan nach Rom.

Mit Hilfe der Katholischen Kirche sollen Hunderte, womöglich sogar Tausende Nazis nach Kriegsende über die sogenannte Rattenlinie aus Deutschland geflohen sein. Ihre Flucht aus der Reichweite der alliierten Siegermächte führte sie überwiegend nach Südamerika. Argentinien, Chile und Bolivien galten als bevorzugte Ziele, aber auch das damals faschistische Spanien und die Länder des Nahen Ostens. Den Staat Israel gab es 1945 noch nicht. Aber wie konnten sie entkommen? Zum einen waren so kurz nach Kriegsende Millionen Menschen quer durch Europa und sogar weltweit auf der Flucht. Holocaust-Überlebende, Kriegsvertriebene, ehemalige Gefangene. Auf dem Weg in die alte oder eine neue Heimat, auf der Suche nach Angehörigen.

Gut vorstellbar, dass die Behörden mit der schieren Masse an Menschen überfordert waren, so dass der eine oder andere einfach durchgerutscht ist. Zum anderen aber, da sind sich Historiker sicher, hatte der größte Teil derjenigen, die sich der Justiz entziehen konnten, Hilfe von der Katholischen Kirche und groteskerweise wohl auch vom amerikanischen Geheimdienst. Mit falschen Papieren ausgestattet, hatten sie freies Geleit in ein neues Leben. Der Vatikan hat eine Mitwirkung lange geleugnet, aber es ist kaum vorstellbar, dass Kirchenvertreter davon nichts gewusst haben. Erst seit Papst Franziskus im Jahr 2020 die vatikanischen Archive für die Forschung öffnen ließ, ist Schritt für Schritt eine Aufarbeitung der Rolle der Katholischen Kirche im und nach dem Zweiten Weltkrieg möglich.

Schon zum zweiten Mal nimmt sich die Ilse-Holzapfel-Stiftung dieses schwierigen Themas an und konnte wieder den renommierten Autor Alexander Pfeuffer für die Umsetzung gewinnen. Pfeuffer hat aus dem Stoff ein Theaterstück entwickelt, das am Montag, zwei Tage nach dem Holocaust-Gedenktag, im Berliner Ensemble Premiere hat. Top-Namen deutscher Schauspieler bringen "Ratten auf der Flucht - Wie Nazitäter entkommen konnten" auf die Bühne. Dabei sind Meret Becker, Sabin Tambrea, Alice Dwyer, Johann von Bülow und Uwe Preuss. Sabin Tambrea, der gerade in der Disney+-Serie "Das deutsche Haus" von Annette Hess brillierte, gibt offen zu, dass Rollen über den Zweiten Weltkrieg immer wieder eine besondere Herausforderung sind: "Die Fassungslosigkeit nimmt kein Ende, egal, wie lange man sich mit diesem Thema befasst. Wozu es nicht kommen darf, ist eine Gewöhnung an dieses Thema, dass es einen kalt lässt. Und das ist der Grund, warum wir diesen Abend machen."

Die Ilse-Holzapfel-Stiftung, 1993 vom Dramatiker Rolf Hochhuth gegründet und nach seiner Mutter benannt, befasst sich nach "Fünf Stellvertreter" im vergangenen Jahr einmal mehr mit einem dunklen Teil deutscher Vergangenheit. "Wir wollen mit diesem Stück die Erinnerung an das Systemversagen im Nachkriegsdeutschland wachhalten", begründet Mike Wündsch, Vorstandsvorsitzender der Stiftung, dieses Engagement. "Hunderte Nazis wurden nie für ihre Taten zur Verantwortung gezogen. Erst nachdem die allermeisten Täter nicht mehr am Leben waren, hat ein deutsches Gericht im Jahr 2011 einen SS-Wachmann verurteilt, obwohl ihm nie ein konkretes Tötungsdelikt nachgewiesen werden konnte. Das ist ein Trauerspiel mit höchstem Erregungsniveau und darf nie vergessen werden."

Die Veranstaltung am Montag ist ausverkauft. In der ersten Reihe des großen Saals im Berliner Ensemble wird die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer sitzen, die trotz ihres Alters von 102 Jahren nie müde wird, ihre eigene traurige Geschichte zu erzählen, um uns alle zu ermahnen: "Was war, war. Das können wir nicht ändern. Aber es darf nie wieder passieren."

Quelle: ntv.de

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