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Hilferuf wegen Neonazi-Umtrieben Bürgermeisterin von Spremberg nach Brandbrief angefeindet

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Ein Aufkleber in den deutschen Nationalfarben an einer Mauer am Busbahnhof der Stadt Spremberg. Darauf wird gegen Jugendliche arabischer Herkunft (Talahons) Stimmung gemacht.

Ein Aufkleber in den deutschen Nationalfarben an einer Mauer am Busbahnhof der Stadt Spremberg. Darauf wird gegen Jugendliche arabischer Herkunft (Talahons) Stimmung gemacht.

(Foto: picture alliance/dpa)

Bürgermeisterin Herntier beklagt in einem Schreiben das Erstarken des Rechtsextremismus in der Kleinstadt Spremberg im Südosten Brandenburgs. Durch TV-Interviews sorgt die Parteilose auch bundesweit für Aufsehen. In der Stadt formiert sich Widerstand gegen sie - die AfD will eine Abwahl prüfen.

Nach ihrem Brandbrief zum Rechtsextremismus hat sich die Bürgermeisterin von Spremberg, Christine Herntier, gegen den Vorwurf verteidigt, sie schade vor allem dem Image der Stadt. "Geht das Problem weg, wenn wir es nicht benennen?", sagte Herntier in der Sitzung der Stadtverordneten am Nachmittag.

Sie rief dazu auf, Straftaten wie verfassungsfeindliche Symbole und Volksverhetzung nicht hinzunehmen, gemeinsam dagegen vorzugehen und ein "Bekenntnis" dagegen abzugeben. Dazu zeigte sie auch Bilder mit rechten Schmierereien und Plakaten aus der 22.000-Einwohner-Stadt in der Lausitz südlich von Cottbus. "Wer findet es gut, wenn wir Gäste am Bahnhof so begrüßen?", sagte Herntier.

Viele in der Stadtverordnetenversammlung signalisieren Unterstützung. Wenn sich die rechte Jugendkultur erst festgesetzt habe, dann habe die Stadt in drei, vier oder fünf Jahren rechte Gewalttäter, sagt der Stadtverordnete und Sozialarbeiter Benny Stobinski (Wählergruppe "Die Spremberger"). "Dann haben wir diese Baseballschläger-Jahre." Es sei richtig gewesen, die Entwicklung öffentlich zu machen, sagt Stobinski.

Bürgermeisterin Herntier hatte sich mit einem Schreiben an die knapp 22.000 Einwohner der Stadt in der Kohleregion Lausitz in Südbrandenburg gewandt. Darin hatte sie beklagt, dass sich das Gedankengut der rechtsextremen Szene in Spremberg zunehmend bemerkbar mache.

Es dürfe nicht länger darüber geschwiegen werden, sagte die parteilose Politikerin. Sie schilderte, dass Lehrer und Schüler aus Oberschulen voller Wut und Angst zu ihr ins Rathaus kämen. Bürger fragten sie unter anderem, ob sie wegziehen müssten, seien verzweifelt und weinten. Ihre Sicht wiederholte sie diese Woche in einem Interview des ZDF. In einer Telegram-Gruppe wurde zu Protesten aufgerufen. Dort wurde Herntier auch beschimpft und angefeindet.

AfD versucht abzuwiegeln

Aus den Reihen der AfD kam in der Sitzung der 27 Stadtverordneten der Vorwurf des Imageschadens an die Bürgermeisterin. Auch einige Bürger kritisierten zuvor bei einer Versammlung am Marktplatz, sie schade dem Ansehen der Stadt.

Der AfD-Landtagsabgeordnete und Stadtverordnete Michael Hanko sprach von einer "Randerscheinung". "Ich glaube, dass das irgendwelche dummen Jungs waren." Hanko sagte, es werde in der Sommerpause geprüft, ob ein Abwahlverfahren gegen die Bürgermeisterin angestrebt werde. Er sprach wörtlich vom "Potsdamer Weg". In der Stadt Potsdam war der SPD-Bürgermeister nach viel Kritik aus dem Stadtparlament per Bürgerentscheid abgewählt worden.

Vor der Sitzung der Stadtverordneten hatte auf dem Marktplatz eine kleine Gruppe Menschen demonstriert. Einige fordern den Rücktritt Herntiers. Auch hier heißt es, die Bürgermeisterin habe dem Ansehen geschadet. "Als Bürger der Stadt Spremberg fühle ich mich mit ihren Auftritten in die rechtsradikale Schiene gedrückt." Das werfe kein gutes Licht auf die Stadt, sagte eine Teilnehmerin. Sie habe hier keine Angst vor Rechtsextremen, sondern vor zugereisten Männern. An Schulen seien nicht Rechtsextreme das Problem, sondern ausländische Jugendliche. Eine andere Frau sagte, die Stadt werde in den Dreck gezogen. Sie habe noch nicht gehört, dass es hier eine rechtsextreme Szene gebe.

Verfassungsschützer warnen

Tatsächlich ist die Bürgermeisterin, die zuletzt 2021 mit mehr als 60 Prozent wiedergewählt wurde, mit ihrer Sicht nicht allein. Immer wieder verweisen Verfassungsschützer gerade in Südbrandenburg auf eine rechtsextremistische Szene. In Spremberg wurden schon vor mehr als zehn Jahren Attacken rechtsextremer Gewalttäter bekannt.

Lorenz Blumenthaler von der Amadeu Antonio Stiftung sieht in der Region "rechtsextreme Landnahme aus dem rechtsextremen Playbook". Gemeint ist das Besetzen von Räumen: Billige Immobilien in der vom Kohleausstieg betroffenen Region werden aufgekauft, öffentliche Plätze zum Beispiel mit Plakaten und Aufklebern als Revier markiert, Jugendliche ohne viele Freizeitoptionen angesprochen.

Der "Dritte Weg" kommuniziert das ganz offen auf seiner Homepage. "Gespräche mit der Deutschen Jugend vor Ort bestärkten in unserem Handeln", schreibt die laut Verfassungsschutz rechtsextremistische Gruppe. Es gebe gesteigertes Interesse bei Jugendlichen.

Blumenthaler sagt, es handele sich um "eine militant streng hierarchisch organisierte Neonaziformation" mit Führerprinzip und NS-Ideologie. Sie biete Jugendlichen Ideologie, Kampfsport, aber auch "kulturell völkische Veranstaltungen" wie etwa Sonnenwendfeiern. Etabliert habe sich die Gruppe in einem Umfeld, in dem auch die AfD stark sei. Bei der Bundestagswahl im Februar erreichte die AfD in Spremberg 45,5 Prozent der Zweitstimmen.

Experte: Spremberg ist kein Einzelfall

Klar ist für den Experten, dass Spremberg kein Einzelfall sei. Das sieht auch der brandenburgische Verfassungsschutz. Die Zahl der Rechtsextremisten in Brandenburg hat nach dessen Erkenntnissen im vergangenen Jahr einen Höchststand erreicht. Erfasst wurden 3650 Personen - fast ein Fünftel mehr als im Jahr zuvor. Vier von zehn Rechtsextremisten werden als gewaltorientiert angesehen.

Blumenthaler sieht die Corona-Pandemie als Beschleuniger der Entwicklung in den vergangenen fünf Jahren: Es sei eine existenzielle Krisenerfahrung, die den selbsterklärten Widerstand gegen "die da oben" scheinbar legitimiert habe. Jugendliche hätten im Lockdown Ohnmacht erlebt und zugleich viel Zeit für Tiktok und Co gehabt, wo die AfD und andere rechte Gruppen stark seien.

Aber was soll die Entwicklung stoppen? "Das gebe ich ja gerne zu, dass wir bisher nicht das richtige Rezept gefunden haben", sagt Bürgermeisterin Herntier zuletzt im ZDF. "Aber mit Sicherheit ist es falsch, so zu tun, als ob das alles nicht stattfinden würde." Sie erhofft sich Erkenntnisse und neue Ansatzpunkte von Verfassungsschützern, die sich für Freitag zum Gespräch angekündigt haben.

Quelle: ntv.de, gut/dpa

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