20 Jahre Untergang der "Estonia" Das nasse Grab der Wahrheit
28.09.2014, 17:34 Uhr
Schon vor ihrem Untergang war die "Estonia" nicht in Topzustand: Am Bugvisier sind die Abnutzungserscheinungen am deutlichsten zu sehen.
(Foto: picture-alliance/ dpa)
Auf den Tag genau vor 20 Jahren geschieht das schwerste Unglück in der Geschichte der europäischen Schifffahrt seit 1945: Die Ostsee-Fähre "Estonia" sinkt und reißt 852 Menschen in den Tod. Bis heute sind die Ursachen ungeklärt.
Ein heftiger Herbststurm fegt in der Nacht zum 28.September 1994 über die Ostsee. An diesem Abend fährt nur raus, wer unbedingt muss. Kapitän Arvo Andresson muss: Fast 1000 Passagiere wollen am nächsten Morgen pünktlich in Stockholm anlanden, die "Estonia" hat die estnische Hauptstadt Tallinn bereits mit Verspätung verlassen. Und Andresson hasst Verspätungen - ohne Rücksicht auf das Wetter prügelt er die 155 Meter lange Autofähre mit 40 Stundenkilometern durch die fast fünf Meter hohen Brecher, die ihm das Baltische Meer entgegenschleudert. Jede neue Welle erwischt das Bugvisier der "Estonia" wie der Faustschlag eines Titanen, die Dauerbelastung ist zu viel für die Konstruktion: Kurz nach Mitternacht reißt die Halterung der Verladeluke ab, jede neue Woge drückt 20 Tonnen Wasser in den Bauch des Schiffes. In nur 30 Minuten läuft die "Estonia" voll und sinkt. Nur 137 Passagiere überleben in der 13 Grad kalten Ostsee lange genug, um von den zu Hilfe eilenden Schiffen und Hubschraubern gerettet zu werden. 852 Menschen sterben - und auch die Wahrheit findet allem Anschein nach ein nasses Grab.
"Manipuliert und zurechtgedreht"

Durch das abgerissene Bugvisier drangen pro Welle 20 Tonnen Wasser in den Bauch des Schiffes ein.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Eine Kombination aus menschlichem und Materialversagen: Das legt eine von Schweden, Finnland und Estland eingesetzte Untersuchungskommission in ihrem Abschlussbericht nahe, der nur eine Woche nach dem schwersten Unglück der europäischen Schifffahrt seit dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht wird. Es ist nur die erste in einer ganzen Reihe von Ungereimtheiten, die in der Folge vermuten lassen, dass die Kommission etwas vertuschen möchte. Als Taucher etwa wenig später ein zentrales Beweisstück bergen - den Haltebolzen des angeblich zu schwach konstruierten Bugvisiers - wirft es ein schwedischer Vertreter der Kommission mit der Begründung zurück in die Ostsee, im Hubschrauber sei kein Platz mehr dafür.
Damit nicht genug: Nur Monate später unterzeichnen die beteiligten Staaten ein Abkommen, das es Dritten unter Haftandrohung verbietet, sich dem Wrack zu nähern. Stattdessen soll die "Estonia" mit einem gewaltigen Betondeckel versiegelt werden. Ein beispielloser Vorgang, der angeblich dazu dienen soll, die Totenruhe der noch im Schiff eingeschlossenen Opfer zu gewährleisten. Erst ein Jahr später wird das Vorhaben nach massiven Bürgerprotesten in Schweden gestoppt.
Die Liste der Ungereimtheiten bei der Aufarbeitung der Tragödie ließe sich noch lange fortsetzen - doch wer macht sich diese Mühen und warum? Wurde die "Estonia" Opfer eines Bombenanschlags, wie populäre Verschwörungstheorien mutmaßen? Und wer könnte ein Interesse an der Versenkung der Ostsee-Fähre gehabt haben? Die Gerüchteküche brodelt, von Überresten der Roten Armee und der Mafia ist die Rede. Ganze Heerscharen von Journalisten und Experten begeben sich auf Spurensuche.
Militärtechnik an Bord
Ein spektakuläres Gutachten, in Auftrag gegeben von der deutschen Fernsehjournalistin Jutta Rabe, soll 2001 beweisen, dass die "Estonia" tatsächlich versenkt wurde: An Wrackteilen seien Spuren gefunden worden, die nur durch eine Explosion entstanden sein konnten, behauptet Rabe. Wenig später stellt ein Gegengutachten des "Spiegel" klar: Die Explosionsspuren sind lediglich Überreste einer ganz normalen Rostschutzbehandlung. Ist die "Estonia" also doch ein Opfer der Gezeiten geworden?
So sieht es jedenfalls bis Ende 2004 aus, als plötzlich das schwedische Militär unter dem massivem Druck der Presse nachgibt: Ja, heißt es nun, die "Estonia" hatte Militärtechnik an Bord, die aus der ehemaligen Sowjetunion heimlich nach Stockholm transportiert werden sollte. Die Nachricht geht wie ein Lauffeuer um die Welt, neue Untersuchungskommissionen werden eingesetzt. Jahrelang wird simuliert, analysiert und befragt, was das Zeug hält.
Alles umsonst: 20 Jahre nach dem tragischen Untergang der "Estonia" ist man weiter von einer Aufklärung des Unglücks entfernt als jemals zuvor. Und die Angehörigen der 852 Opfer stehen immer noch vor der alles entscheidenden Frage, warum ihre Liebsten an jenem schicksalhaften 28. September 1994 sterben mussten.
Quelle: ntv.de