Vom Dealer zum Dichter Davide Cerullo - der geläuterte Mafioso


Davide Cerullo versucht, Kinder vor einer "Karriere" wie der seinen zu bewahren.
(Foto: Olivier Pellegrino)
Aufgewachsen in der berüchtigten neapolitanischen Mafia-Hochburg Scampia, diente Davide Cerullo der Camorra schon mit 10. Mit 14 drückte man ihm eine Pistole in die Hand. Irgendwann kreuzte aber die Poesie seinen Weg und rettete ihn.
Es waren zwei Seiten des Lukas-Evangeliums, die er eines Tages auf der Gefängnispritsche fand, die seiner Mafioso-Existenz erste kleine Sprünge verpassten, erzählt Davide Cerullo bei einem Treffen in Italien. Auf den zwei Seiten kam sein Vorname, Davide, mehrmals vor, und das beeindruckte ihn so sehr, dass er die Seiten herausriss, versteckte und bei der Entlassung mit sich nahm.
Gleich nach seinem 18. Geburtstag war er wegen Drogenhandels festgenommen und ins Gefängnis von Poggioreale gebracht worden. Seine kriminelle Karriere hatte aber schon viel früher begonnen: Gerade einmal 10 Jahre alt, begann er für die neapolitanische organisierte Kriminalität, die Camorra, kleine Dienste zu erledigen.
Die Camorristi hatten ihm den Spitznamen der Schokolade "Ciao Crem" verpasst, weil er dem Jungen dieser Schokoladenwerbung sehr ähnlich sah, und so war er für alle nur mehr Ciao Crem. Er selber identifizierte sich so sehr mit dem Spitznamen, dass es ihn zutiefst beeindruckte, seinen Taufnamen Davide zu lesen. "Es war, als würde ich mich wiederfinden", erzählt er.
Heute ist Cerullo 49 alt, stämmig, mit graumeliertem Haar und Bart. Wieder einmal tourt er durch Italien, um sein jüngst veröffentlichtes Fotoalbum-Buch "Volti di Scampia" (Gesichter aus Scampia) vorzustellen und vor allem in den Schulen seine Geschichte noch einmal zu erzählen. Eine Geschichte, die von der Hölle erzählt und von einer Wieder- beziehungsweise von einer Neugeburt.
Mit 14 die erste Pistole
Die "Lehrjahre" begannen mit kleinen Dienstleistungen, wie Drogen oder Waffen von einem Wohnhaus, später von einem Viertel zum anderen zu bringen. Er lebte mit Mutter und 13 Geschwistern in dem neapolitanischen Camorra-Viertel Scampia, einem Stadtteil, der mit dem preisgekrönten Film von Matteo Garrone "Gomorrha" aus dem Jahr 2008 international bekannt wurde.
Es gibt Momente, in denen man Davide Cerullo nicht mehr zuhören möchte, denn was er erzählt, grenzt fast schon ans Unerträgliche. Zum Beispiel die Erinnerung an den ersten Mafia-Toten, den er mit 11 Jahren gesehen hatte. "Es war unser Boss, man hatte ihm von hinten eine Kugel in den Kopf geschossen, die bei der Nase herausgekommen war. Auch nach all diesen Jahren sehe ich die ganze Szene noch vor mir: Ich sehe den Toten, ich sehe mich, wie ich den Finger in das Loch stecke, und ich fühle die eisige Kälte." Damals hatten sich sein bester Freund und er geschworen, genauso zu sterben wie ihr Boss. Denn wer heimtückisch von hinten erschossen wird, ist jemand, der anders nicht zu besiegen ist.
Mit 14 hatten die Camorristi Cerullo dann die erste Pistole in die Hand gedrückt. "Sie wussten, dass ich es kaum erwarten konnte, jemandem ins Gesicht zu schießen." Erst die Geschichte seiner ersten Festnahme mit 16 erinnert den Zuhörer daran, dass hier die Rede von einem Kind beziehungsweise Jugendlichen ist. "Die Polizisten hatten mir keine Handschellen angelegt. Ich bestand aber darauf, weil in den Filmen den Mafia-Bossen immer Handschellen angelegt wurden."
Kindheit voller Wut und Gewalt
Seit den zwei Seiten aus dem Lukas-Evangelium ist viel Zeit verstrichen und Cerullo hat es geschafft, sich vom kriminellen Milieu loszureißen. Heute ist er Fotograf, Autor und hat in Scampia den Verband "Albero delle storie", Baum der Geschichten, gegründet. Dieser betreut eine Gruppe Kinder zwischen sieben und elf Jahren, hilft bei den Hausaufgaben, organisiert mit den Familien Abendessen und Feste. Im kleinen Garten, der zum Verbandshaus gehört, gibt es auch ein paar Ziegen und Schafe. Ein Andenken an seine Kindheit, sein Vater war Schafzüchter, vor allem aber etwas Schönes für seine Schützlinge. "Kinder haben das Recht, Kinder zu sein", sagt Cerullo und er weiß, wovon er spricht.
Warum er sich schon als Kind nichts sehnlichster wünschte, als ein Camorrista zu sein, erzählt Cerullo in der Autobiografie "L'orrore e la bellezza" (Der Horror und die Schönheit), die vor ein paar Jahren erschienen ist. Darin erzählt er von einer Kindheit, die ihn fast schon dazu verdammt hatte: Der Vater war Schafzüchter und in der Familie der gewalttätige Patriarch. Im Internat, wohin sein Bruder und er für ein Jahr gesteckt worden waren, kam es zu ständigen Demütigungen und auch zu sexuellen Übergriffen. Zärtlichkeit, Zuwendung und Liebe gab es nicht: "Das alles nährte in mir die Wut und Gewaltsucht."
All seine Brüder haben hinter Gittern gesessen, auch seine Mutter. Er war noch ein Kind, als er einen seiner Brüder im Badezimmer sah, wie er sich eine Heroinspritze gab. Beeindruckt schien er nicht zu sein: "Mich interessierte, was man dabei spürte", erzählt Cerullo. Er nahm sich vor, es selbst auszuprobieren: "Gemacht habe ich es aber nicht, weil ich vor Spritzen Angst habe." Als Dealer sah er, wie sich viele zugrunde richteten. Schuldgefühle, dass er das Zeug verkaufte, hatte er aber nicht. "Es war ja nicht ich, der sie aufsuchte, die kamen zu mir", sagte er sich damals.
Anders als viele seiner Freunde und Bekannten ist Cerullo noch am Leben. Das liegt daran, dass er niemanden getötet hatte und auch keine Geheimnisse der Camorra kannte. Das wiederum hat er vor allem zwei Menschen zu verdanken: der Nonne Suor Monica und dem Maler Sergio. Beide kamen immer wieder nach Scampia, drehten im Viertel ihre Runden, immer auf der Suche nach noch zu rettenden Seelen.
Narben, die für immer bleiben
Cerullo erzählt, wie ihn eines Tages Suor Monica fragte, was für ihn ein Camorrista sei: "Ich antwortete, das ist einer, der sich alles leisten kann." Er selber verdiente am Tag an die 900.000 Lire, was umgerechnet ungefähr 450 Euro sind. Das Einzige, was zähle, sei Geld, hatte ihm ein Boss einmal gesagt und diese Feststellung mit der universalen Geste von Daumen und Zeigefinger, die gegeneinander reiben, begleitet. Suor Monica antwortete darauf: "Stimmt, du vergisst aber, dass der Camorrista sich auch sein Grab schaufelt."
Während ihm die Nonne ins Gewissen redete, führte ihn der Maler Sergio in die Literatur beziehungsweise in die Lyrik ein. "Ich ging zwar gerne in die Schule, mehr als die Grundschule war aber nicht drin", erzählt Cerullo. "Bei mir zu Hause gab es keine Bücher, bei Sergio war es voll damit. Langsam las ich mich in Pier Paolo Pasolini, Christian Bobin, Anna Achmatowa, um nur ein paar zu nennen, ein." Die russische Dichterin Achmatowa zitiert er gerne mit dem Vers: "Und wüssten Sie, wie ohne jede Scham / Gedichte wachsen, und aus welchem Müll!"
"Mich hat die Lyrik zu neuem Leben erweckt", fügt er erklärend hinzu. Freilich, die Narben, die sein vergangenes Leben hinterlassen hat, werde er bis zum Ende seiner Tage spüren. Auch sei es nicht in seiner Macht, andere zu retten, "jeder muss sich selbst retten". Was er aber machen kann: Kinder vor einer "Karriere" wie der seinen bewahren. Es zumindest versuchen. Damit Kinder einfach nur Kinder sein dürfen.
In diesem Zusammenhang erzählt er von einem Vorfall, der sich unlängst ereignet hat: Er war zu Gast in einer Schule in der Nähe von Neapel. Ein Junge, um die 11 Jahre, näherte sich ihm und fragte: "Stimmt das, dass du im Gefängnis warst?" "Ja", antwortete Cerullo. "Und für wie lange?" "Ein Jahr." "Ach so", antwortet der Junge geringschätzig und fügte stolz hinzu: "Mein Großvater war ganze fünf Jahre hinter Gittern." Gegen diese Normalisierung des Bösen, gegen diese Umkehrung der Werte kämpft Cerullo heute.
Quelle: ntv.de