Das Versprechen vom Neuanfang "Disruption wird zum Normalzustand"


Einen radikalen Neuanfang wünscht sich mancher.
(Foto: picture-alliance / dpa)
Dank Trump, Musk und Milei ist Disruption der politische Begriff der Stunde. Trotz der schwierigen Protagonisten geht von der Idee eine seltsame Faszination aus: Wollen wir uns nicht alle radikal verändern?
Kein Tag vergeht ohne bizarre Nachrichten aus dem Weißen Haus: Seit Donald Trump seine zweite Amtszeit als US-Präsident angetreten hat, verkündet und unterzeichnet er in atemberaubendem Tempo Entscheidungen und Dekrete - mal schockierend, mal völlig gaga, meistens unbeirrt. Das mündet schon mal in der Behauptung, Papierstrohhalme könnten explodieren. Echt jetzt?
Es ist sein Geschäftsmodell, in schneller Abfolge so viel Absurdes zu verbreiten, dass Medien und Menschen auf der ganzen Welt mit der Aufgabe überfordert sind, das alles einigermaßen zu ordnen. Immer an Trumps Seite ist der Tech-Milliardär Elon Musk, dem der Präsident die Aufgabe übertrug, den teuren Staatsapparat kurz und klein zu hauen - ohne Rücksicht auf Verluste. Weil "rücksichtslos" oder "kaltherzig" nicht so schön klingen, ist dieses Vorgehen: disruptiv.
Das Wort Disruption stammt aus dem Englischen und bedeutet so viel wie Zerstörung oder Unterbrechung. In die Wirtschaft getragen hat es der frühere Harvard-Professor Clayton M. Christensen, der den Begriff der disruptiven Innovation prägte: Neue Produkte und Vertriebswege schaffen einen neuen Markt und verdrängen etablierte Geschäftsmodelle. Ein Beispiel für disruptive Innovation ist der Streaminganbieter Netflix, dessen Angebot die Videotheken überflüssig machte. Der Trend zur politischen Disruption ist in der Forschung eng verknüpft mit den Erfolgen populistischer Politiker. Dort trifft sie in der Regel den aufgeblähten Staat, der von angeblich korrupten Eliten befreit werden müsse. Dass die disruptiven Protagonisten selbst Eliten und mitunter korrupt sind - Schwamm drüber!
Der Traum vom Neuanfang
Nun ist die Sehnsucht nach Befreiung auch jenen bekannt, die Trump und Musk nicht in Sympathie zugetan sind. Wer hat noch nicht davon geträumt, sich von den Zwängen des Alltags zu lösen und irgendwo anders gänzlich unvorbelastet von vorne zu beginnen? Wer im Job den Satz "Das haben wir schon immer so gemacht" hört, will sofort die alten Zöpfe abschneiden.
Selbst die weltweit beliebte Aufräummethode der japanischen Bestsellerautorin Marie Kondo folgt einem radikalen Ansatz: alles raus dem Kleiderschrank, konsequent ausmisten. Erst dann ist ein Neuaufbau möglich. Das Prinzip der Disruption ist dem Menschen offenbar nicht fremd.
"Das fängt mit dem Dry January und den guten Vorsätzen zum Jahreswechsel an", sagt Lars Koch, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Medienkulturwissenschaften. An der TU Dresden ist er seit 2019 Co-Sprecher des Verbundprojekts "Disruption and Societal Change". "All das sind Versuche des kleinen, individuellen Bruchs mit den alltäglichen Praktiken, die meistens nicht so lange vorhalten, aber wenigstens mal ein gutes Gefühl der Selbstwirksamkeit geben." Diese Selbstwirksamkeit verkörperten auf der politischen Bühne eben Figuren wie Trump und Musk, die zur Tat schreiten, statt lamentieren würden.
Etwas ohne Rücksicht auf Konsequenzen durchzuziehen, macht das die Faszination aus? "Dass so viele über Disruption sprechen, dokumentiert schon, dass der Begriff etwas triggert, was in der Gesellschaft ein großes Begehren impliziert", sagt Koch. Das selbstgewisse Auftreten beeindrucke besonders Menschen, die ihre soziale Position bedroht sehen würden. "Sie werden in dieser diffusen Bedrohlichkeit aufgefangen von solchen Typen, die sagen: Ich gehe voran und wir werden mit harten Schnitten alles besser machen. Das ist Affektpolitik."
Bei Trump und Musk sei Disruption eine politische Praxis: "Sie ist von einem ganz starken anti-institutionellen Impuls getrieben, der darauf abzielt, etablierte Routinen, die Legitimation durch Verfahren, all das, was man aus dem demokratischen Prozess kennt, zu diskreditieren und zu zerstören." Die Chaosproduktion durch Überforderung und Überflutung sei ein Teil davon, Disruption werde so zum Selbstzweck, "um eigene Macht- und Profitinteressen zu maximieren, indem man Kontrollinstanzen delegitimiert und abbaut".
Notwendige Veränderungen
Nun muss man kein Anhänger libertärer Strömungen sein, um sich über manch staatliche Institution zu ärgern. Dafür reicht schon der Versuch, einen zeitnahen Termin beim Bürgeramt zu buchen. Die Versprechen vom radikalen Aufräumen verfangen auch deshalb, weil die Ziele nicht komplett erfunden, sondern im realen Alltag verankert sind. Mit Blick auf Verwaltungsreformen, Bürokratieabbau, Digitalisierung oder aktuell die Rüstungspolitik sehen selbst Vertreter der politischen Mitte in Deutschland die Notwendigkeit von tiefgreifenden Veränderungen.
Lars Koch, der 2023 das Buch "The Great Disruptor: Über Trump, die Medien und die Politik der Herabsetzung" herausgegeben hat, benennt den Unterschied zu den USA: "Hier geht es wirklich um Reformen, um Problemlösungen, die sich Verfahren der Überprüfbarkeit unterziehen, die Expertise einbinden." Diese Verfahren seien in Demokratien allerdings sehr langsame, schleppende Prozesse und widersprächen einem weit verbreiteten Dringlichkeitsgefühl.
Auch deshalb falle Populismus auf fruchtbaren Boden. "Disruption ist das Versprechen, mit dieser unerträglichen Komplexität der Gegenwart aufzuräumen: der Befreiungsschlag." Martialische Auftritte wie die des Kettensäge schwingenden argentinischen Präsidenten Javier Milei würden das verstärken. "Der Abbruch mit der Kettensäge antwortet auf dieses Dringlichkeitsgefühl und übersetzt das Versprechen auf schnelle Problemlösungen in starke Bilder."
Zukunft mit der Kettensäge?
Die Sehnsucht nach einfachen Antworten verstärkt sich durch eine wachsende kollektive Zukunftsangst. War Fortschritt bislang immer gleichbedeutend mit Sicherheit und wirtschaftlichem Wohlstand, drohen Technologien der Künstlichen Intelligenz künftig Arbeitsplätze zu vernichten. "Wir alle wissen intuitiv, dass die Zeiten nicht besser werden", sagt Koch. "Zukunft erscheint immer weniger als ein gestaltbarer Möglichkeitsraum, sondern mehr als ein Gefahrenraum - von der Klimakatastrophe bis zu den geopolitischen Konfliktlinien. Allen ist klar, dass es irgendwie schwieriger wird in der Zukunft."
Disruption kann eine bewusste Maßnahme sein, aber auch eine ungeplante Zäsur darstellen. Seit der Finanzkrise jagt eine konkrete Erschütterung die nächste, meist über Jahre hinweg und sich gegenseitig überlagernd: Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, Klimawandel sowieso. "Alles ist super komplex, gegen diese diffusen Ängste kann man kaum etwas machen", sagt Lars Koch. Politische Disruption liefere in diesem Kontext den vermeintlichen Ausweg: "Das ist das Einsammeln von Ängsten, die mit Hass und Ressentiments angereichert werden. Das ist bei der AfD nicht anders."
Mit Blick auf die globalen Bedrohungen der jüngeren Vergangenheit lehne er es ab, von Krisen zu sprechen, sagt Lars Koch. "Der Krisenbegriff impliziert, dass es eine Rückkehr zum alten Normalzustand geben könnte." Wir lebten dagegen in einem Zeitalter der permanenten Bruchhaftigkeit, "Disruption wird zum Normalzustand".
Einen disruptiven Hoffnungsschimmer gibt es trotz der düsteren Aussichten. Disruption könne durchaus positiv sein, versichert Koch. "Sie ist dann produktiv, wenn sie als Modus der Kritik ernst genommen und als Unterbrechung genutzt wird." Würden Prozesse konstruktiv hinterfragt, könnten Veränderungen anschließend durchaus radikal ausfallen - "solange man mit einer differenzierten Problembeschreibung zu wohl begründeten Lösungsvorschlägen gelangt". Das wiederum sei nicht möglich im Modus der Dringlichkeit, konfrontiert mit einer Flut von Absurditäten und Kettensägen. "Das braucht dann einen Moment des Innehaltens."
Quelle: ntv.de