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"Effekt bei AfD-Wählern" Gefühlte Kriminalität: Wird es wirklich immer schlimmer?

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"Ein Unsicherheitsgefühl kann zu krassen Einschränkungen von Freiheit und Lebensqualität führen", sagt Führer.

"Ein Unsicherheitsgefühl kann zu krassen Einschränkungen von Freiheit und Lebensqualität führen", sagt Führer.

(Foto: picture alliance / imageBROKER)

Viele Menschen fühlen sich in Deutschland zunehmend unsicher. Mit der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung habe das jedoch wenig zu tun, sagt die Sozialpsychologin Jennifer Führer. Maßgeblich sei vielmehr die Art und Weise, wie über Sicherheit debattiert wird - und auch die Parteipräferenz, so die stellvertretende Direktorin des Zentrums für kriminologische Forschung Sachsen.

ntv.de: Das Sicherheitsgefühl der Menschen in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verringert, wie etwa aus dem Sicherheitsreport des IfD Allensbach und des Centrums für Strategie und Höhere Führung hervorgeht. Demnach meidet knapp jeder Zweite nachts Gebiete in seinem Umfeld und rund jeder Dritte hat Sorge, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden. Deckt sich das mit dem tatsächlichen Kriminalitätsvorkommen?

Jennifer Führer: Schon seit Jahrzehnten zeigt die Forschung, dass Kriminalitätsraten kaum bis überhaupt keinen Einfluss auf die Wahrnehmung von Kriminalität in der Bevölkerung haben. Dabei ist es egal, ob die Kriminalität gerade ab- oder zunimmt. In dem von uns vorgenommenen Längsschnitt haben die Befragten selbst in den Pandemie-Jahren, als die Straftaten massiv zurückgegangen sind, gesagt: Es wird immer schlimmer. Als es daraufhin einen Anstieg gab, war die Antwort nicht etwa, es werde jetzt richtig schlimm, sondern gleichlautend. Die Befragten gehen also von einer kontinuierlichen Zunahme aus, unabhängig von den tatsächlichen Zahlen.

Wie erklären Sie sich das?

Menschen überschätzen die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen, wenn Informationen leicht verfügbar sind. Das ist nicht nur bei Kriminalität so. Wenn Leute nach der Häufigkeit von Flugzeugabstürzen gefragt werden, nennen sie eine viel zu hohe Zahl. Denn wenn ein Flugzeug abstürzt, wird weltweit darüber berichtet, wie das aktuellste Ereignis in Washington zeigt. Aber an allen anderen Tagen wird natürlich nicht gemeldet, dass kein Flugzeug abgestürzt ist. Dasselbe gilt für Kriminalität. Durch das Internet und die sozialen Netzwerke haben wir einen viel leichteren und schnelleren Zugang zu Informationen. Hinzukommend werden einige Fälle medial prominenter aufgezogen als andere.

Ist das der einzige Grund?

Ein weiterer Faktor ist Kontakt. Wir haben nach den Ausschreitungen in Chemnitz 2018 danach gefragt, wie sicher die Innenstadt ist. Bewohner der Innenstadt haben gesagt, es sei sehr sicher. Menschen vom Stadtrand hingegen gaben an, sie trauten sich schon seit Jahren nicht mehr in die Innenstadt. Wenn Menschen an Orten, die als unsicher gelten, Alltagserfahrungen machen, merken sie, dass es gar nicht in dem Ausmaß unsicher ist, wie von manchen angenommen. Wer von vornherein ein hohes Vermeidungsverhalten an den Tag legt, kann keine gegenläufigen Erfahrungen machen.

Gibt es Personengruppen, die anfälliger für ein solches Verhalten sind?

Wir konnten feststellen, dass die zugrundeliegende ideologische Einstellung einen gewissen Einfluss hat. Menschen, die politisch eher rechts orientiert sind oder Verschwörungsmythen anhängen, haben eine höhere Kriminalitätsfurcht. Sprich, sie haben eher Angst, Opfer einer Straftat zu werden. Mit Blick auf die Parteipräferenz zeigt sich dieser Effekt insbesondere bei Menschen, die AfD wählen. Im Vergleich zu Anhängern anderer Parteien haben die auch das höchste Vermeidungsverhalten an den Tag gelegt, was wiederum zu der Wahrnehmung führt, alles werde immer schlimmer.

Ist die Angst vor Kriminalität denn ausschließlich irrational? Schließlich werden Menschen tagtäglich Opfer von Straftaten.

Natürlich gibt es Kriminalität. Ein gewisses Schutzverhalten an den Tag zu legen, kann durchaus sinnvoll sein. Allerdings ist Deutschland grundsätzlich ein sicheres Land. Auch im zeitlichen Verlauf ist es deutlich sicherer geworden. Wir hatten in der Polizeilichen Kriminalstatistik von 1993 insgesamt 6,7 Millionen Straftaten, 2023 waren es 5,6 Millionen. Das ist ein Riesenunterschied. Zuletzt verzeichnete die Polizeiliche Kriminalstatistik einen Anstieg bei der Gewaltkriminalität. Den muss man sich anschauen, man muss aber auch differenzieren. Während der Corona-Pandemie fiel die Zahl der Straftaten insgesamt auf ein Allzeittief. Die darauffolgende Zunahme trifft nicht auf jedes Bundesland und nicht auf jede Gewaltstraftat zu. Trotz gelegentlicher Schwankungen in manchen Bereichen zeigt der Trend auch weiterhin klar nach unten.

Aber allein der Umstand, dass etwas unwahrscheinlich ist, nimmt nicht automatisch die Angst.

Ja, Ängste lassen sich nicht einfach wegwischen. Wer etwa schon einmal Opfer einer Straftat wurde, hat eine höhere Angst, dass das nochmal passiert. Ich möchte das aus kriminologischer Sicht auf keinen Fall negieren. Unsere persönlichen Erfahrungen und die unseres nahen Umfeldes prägen uns, aber wir sollten das trennen von der gesellschaftlichen Debatte, die wir führen. Wenn gesagt wird, Deutschland müsse wieder sicherer werden, impliziert das eine Unsicherheit und führt zu einer Wahrnehmung, die nicht den Tatsachen entspricht.

Was hat das für Folgen?

Individuell kann ein Unsicherheitsgefühl zu krassen Einschränkungen von Freiheit und Lebensqualität führen, wenn Menschen abends nicht mehr allein auf die Straße gehen oder bestimmte Orte meiden. Gesellschaftlich hat das die Konsequenz, dass es langfristig zu einem hohen Vertrauensverlust in staatliche Institutionen kommen kann. Damit geht oft auch die Forderung nach härteren Strafen einher. Und was wir in der Forschung auch immer sehen: Menschen, die glauben, die Kriminalität wird immer schlimmer, haben auch mehr Vorurteile gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen. Das führt zu einer Stigmatisierung.

Wie lässt sich die gefühlte Sicherheit denn verbessern?

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Eine höhere Polizeipräsenz kann zum Beispiel das Sicherheitsempfinden für einige Menschen erhöhen. Allerdings gibt es durchaus Gruppen, die sich dadurch unsicherer fühlen. Nicht etwa, weil sie Straftaten begehen wollen, sondern weil ihre Erfahrungen mit der Polizei keine positiven waren. Wenn eine Maßnahme als die eine Lösung dargestellt wird, ist das immer mit Vorsicht zu genießen. Je mehr Sicherheitsmaßnahmen präsent sind, desto mehr kann das Gefühl entstehen, es könnte jederzeit zu einer Straftat kommen oder diese Gegend sei besonders unsicher. Das ist psychologisch ein zweischneidiges Schwert. Wir wissen, dass ein höheres Vertrauen in staatliche Institutionen wie die Justiz oder Polizeien zu einem höheren Sicherheitsempfinden führt. Es wäre jedoch vor allen Dingen wichtig, dass wir als Gesellschaft die Debatte um Kriminalität weniger reißerisch und populistisch führen, sondern eher daten- und faktenbasiert.

Mit Jennifer Führer sprach Marc Dimpfel

Quelle: ntv.de

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