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Kein Tabu mehr Machen jetzt alle Therapie?

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Psychotherapie wird normaler – und die Gesellschaft scheint dafür offener denn je.

Psychotherapie wird normaler – und die Gesellschaft scheint dafür offener denn je.

(Foto: picture alliance)

Immer mehr Menschen gehen zur Therapie. Was früher als verpönt galt, ist heute kein Grund mehr, sich zu schämen. Ist die Akzeptanz in der Gesellschaft für Psychotherapie gestiegen? Oder haben wir heute einfach mehr Probleme?

"Ich gehe zur Therapie." Ein Satz, den man in der Generation der Babyboomer maximal geflüstert hätte, hört man unter Millennials und jüngeren Generationen immer häufiger. Wer unter Burnout, Depressionen, Angststörungen oder Panikattacken leidet, holt sich Hilfe, statt weiter zu leiden. Doch woran liegt das? Ist die Gesellschaft offener für Psychotherapie geworden? Oder sind die Erwartungen an die Menschen mittlerweile so sehr gestiegen, dass sie mehr Hilfe brauchen?

Überraschend wäre es nicht. So stehen vor allem junge bis mittelalte Erwachsene heute nicht nur vor dem gesellschaftlichen und meist auch eigenen Anspruch, sich beruflich zu verwirklichen, die eigene Partnerschaft am Laufen zu halten und die Kindererziehung nach neuesten Erkenntnissen zu meistern. Sondern sehen sich zudem auch noch mit steigenden Anforderungen der immer digitaler werdenden Welt, der Sorge um eine ausreichende Altersvorsorge sowie mit globalen Krisen wie Kriegen, der Klimakrise und den Auswirkungen der Corona-Pandemie konfrontiert.

Druck und mentale Belastung sind groß. Der Bedarf an Psychotherapie ebenso: Nach Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) habe sich dieser epidemiologischen Studien zufolge in den vergangenen 20 Jahren nahezu verdoppelt. Rund 20 Millionen Menschen erkranken in Deutschland jedes Jahr an einer psychischen Erkrankung, wie die BPtK in einem Hintergrundpapier zur Weiterentwicklung der psychotherapeutischen Versorgung aus dem Jahr 2023 erklärt. Nur 1,9 Millionen psychisch kranke Menschen erhalten jedoch jährlich eine ambulante psychotherapeutische Behandlung.

Zwar ist der Bedarf damit bei Weitem nicht gedeckt, das Ansehen der Psychotherapie als beste Behandlungsmöglichkeit bei psychischer Erkrankung ist dennoch deutlich gestiegen. Während Anfang der 1990er Jahre nur 54,7 Prozent aller Befragten der Meinung waren, dass Psychotherapie zur Behandlung von Depressionen empfohlen werden sollte, sahen das 2001 bereits 70 Prozent so. Bei einer Umfrage der Stiftung Deutsche Depressionshilfe aus dem Jahr 2018 waren schließlich 94 Prozent aller Befragten der Auffassung, dass Depressionen psychotherapeutisch behandelt werden sollten.

Betroffene suchen sich heute schneller Hilfe

Das Tabu der Psychotherapie sinkt also. Bleibt dennoch zu klären, ob dies allein der Grund dafür sein kann, dass sich mehr Menschen therapeutische Hilfe suchen - oder ob doch schlicht mehr Menschen erkranken. "Es ist ein bisschen von beidem", erklärt Dr. Johanna Thünker vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) im Interview mit ntv.de. So seien die Zahlen von behandlungsbedürftigen psychischen Störungen nach sehr vielen stabilen Jahren im Zuge der Corona-Pandemie und anderen globalen Krisen zwar leicht angestiegen, dennoch sei es nicht so, dass plötzlich viel mehr Menschen psychisch erkrankt seien. Viel mehr seien vorher einfach mehr Menschen unbehandelt geblieben, sagt die Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin.

Allerdings suchen sich Betroffene heute schneller Hilfe als früher. "Mehr Menschen, die immer schon Behandlung gebraucht hätten, sind heute bereit, diese auch in Anspruch zu nehmen." So auch Gruppen, für die das früher nie infrage gekommen wäre - wie die Generation 60/70 plus. "Das ist noch nicht unsere Hauptklientel, aber die kommen zunehmend auch", erklärt Thünker. Auch, weil sie durch ihre Kinder mehr Berührungspunkte damit haben und Hausärzte bei entsprechenden Problemen zunehmend zur Psychotherapie raten.

Ebenfalls hinzu kommen bestimmte Störungsbilder, die bis vor einigen Jahren noch gar keine Rolle in der Erwachsenenbehandlung gespielt haben. ADHS und Autismus seien solche Beispiele, die klassischerweise in der Kindheit und Jugend auftreten - jedoch anders, als man früher glaubte, mit dem Erwachsenwerden nicht einfach aufhören. ADHS sei erst seit 2000 überhaupt eine anerkannte Störung im Erwachsenenalter. "Das heißt, wir haben eine relativ große Gruppe von Menschen, die entweder als Kind gar nicht diagnostiziert wurden, und jetzt im Erwachsenenalter eine Diagnose bekommen oder aber die jetzt - anders als es früher war - im Erwachsenenalter auch noch therapeutische Unterstützung bekommen, die sie sonst nicht bekommen hätten."

Entstigmatisierung durch Social Media

Wer bei Social Media aktiv ist, bemerkt auch hier, dass ADHS im Erwachsenenalter sowie andere psychische Erkrankungen dort immer offener thematisiert werden. Dies helfe auch bei der Entstigmatisierung, sagt Thünker. "Dadurch wird es ein Stück normalisiert, dass man einerseits psychisch erkrankt ist und sich andererseits Hilfe sucht. Und das ist sicherlich etwas, womit wir Menschen erreichen, die sonst vielleicht gar nicht gewusst hätten, dass es Psychotherapie gibt." Wichtig ist es der Expertin aber dennoch zu betonen, dass - auch wenn offen in den sozialen Medien damit umgegangen werde - Psychotherapie kein Lifestyle-Produkt sei, wie es oftmals behauptet wird. "Es passiert wirklich, wirklich selten, dass jemand zu uns kommt, der ein Problem hat, was so klein ist, dass wir sagen, da brauchen Sie keine Hilfe. So niedrig ist die Hemmschwelle nicht, dass einfach jemand nur zum Spaß kommt, so wie zur Kosmetikerin oder so."

Vielmehr sei es so, dass Betroffene erst Jahre oder sogar Jahrzehnte nach dem Auftreten einer psychischen Störung Hilfe suchen - und damit viel zu spät, warnt Thünker. "Je länger man wartet, sich Hilfe zu suchen, desto stärker chronifiziert eine Störung. Zwar bringt Psychotherapie dann auch noch was, aber dann ist es Schadensbegrenzung." Behandle man eine schwere Störung aber relativ früh, sei die Chance, wieder herauszukommen, deutlich größer.

Quelle: ntv.de

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