Kein Geld, keine Therapie? Warum psychisch Erkrankte keine Hilfe bekommen


Das Kunstwerk "Silent Struggle" thematisiert Depressionen und Selbstmord bei jungen Menschen.
(Foto: picture alliance / ANP)
Depressionen, Ängste, Alkoholstörungen: Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet in Deutschland. Belastend für die Betroffenen: Hilfe zu bekommen, kann mehrere Monate dauern. Dabei gibt es eigentlich genügend Therapeuten. Woran liegt es dann?
Die Attentate von Mannheim, Magdeburg und Aschaffenburg haben etwas gemeinsam: Die Täter waren laut Polizei psychisch krank. Die Taten haben die Debatte um psychische Erkrankungen angeheizt, denn eines ist klar: Viele Betroffene bekommen keine Hilfe. Warum ist das so?
In Deutschland ist jeder vierte Erwachsene von einer psychischen Krankheit betroffen, sagt die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Das entspricht rund 17,8 Millionen Menschen. Die häufigsten psychischen Erkrankungen sind Angststörungen, affektive Störungen - das sind vor allem Depressionen - und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum.
Deswegen gibt es auch immer mehr Krankschreibungen: 2023 gab es so viele psychisch bedingte Fehltage wie noch nie, sagt die DAK im aktuellen Psychreport, sie sind um über ein Fünftel gestiegen. Und die Menschen fallen auch immer länger wegen psychischer Störungen aus: Durchschnittlich 3,59 Tage waren sie 2023 krankgeschrieben, steht im Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse (TK).
Der Eindruck täuscht aber: Psychische Erkrankungen nehmen nicht zu, sondern die Zahlen seien über die letzten Jahrzehnte einigermaßen stabil geblieben, sagt Enno Maaß, stellvertretender Bundesvorsitzender der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV), im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". Menschen mit psychischer Erkrankung suchten sich aber häufiger Hilfe. Und auch psychische Belastungen oder psychische Symptome nehmen zu, bedingt durch Corona-Pandemie oder Krisen.
Betroffene warten ein Jahr auf Therapie
Das Problem ist aber, dass nicht alle Betroffenen eine Behandlung bekommen. Weltweit werden nur rund sieben Prozent der Menschen mit psychischen Erkrankungen wirksam behandelt, zeigt eine Studie von Wissenschaftlern aus Kanada und den USA. Der Hauptgrund ist, dass die Betroffenen gar nicht erkennen, dass sie eine Behandlung brauchen - und sich dann auch keine Hilfe holen.
Speziell in Deutschland kommt ein weiteres gravierendes Problem hinzu: Wer Hilfe sucht, muss lange auf einen Therapieplatz warten. Wie lange, dazu gibt es unterschiedliche Zahlen: Der Verband der Ersatzkassen (VDEK) spricht von durchschnittlich 15 Tagen Wartezeit, die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) von drei bis fünf Wochen, die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) von sogar fünf Monaten Wartezeit.
Besonders lang müssen die Menschen auf dem Land auf eine Behandlung warten, sagt Maaß im Podcast: "Das kann von wenigen Wochen bis hin zu Monaten dauern. Bei einer längerfristigen Therapie reichen die Wartezeiten in der Stadt zwischen zwei bis drei Monaten - auf dem Land teilweise bis zu einem Jahr. Aus fachlicher Sicht wäre es in manchen Fällen wichtig, innerhalb von vier Wochen beginnen zu können." So lange müsse man momentan aber schon auf eine Sprechstunde vor der eigentlichen Therapie warten.
Mangel an Kassenzulassungen
Warum wird Menschen, die unbedingt Hilfe brauchen, derart lange nicht geholfen, obwohl es genügend Psychotherapeutinnen und -therapeuten in Deutschland gibt? Rund 48.000 waren es laut dem Statistischen Bundesamt 2019. Viele kritisieren, dass zu wenige auch eine Kassenzulassung haben - aktuell laut KBV nur knapp 35.000 Psychotherapeuten. Nur wer die hat, kann die Rezepte vom Arzt über die Krankenversicherung abrechnen - also die gesetzlich versicherten Patienten behandeln. Für alle anderen Therapeuten müssen die Betroffenen selbst zahlen.
Hinter der Kassenzulassung steckt die Bedarfsplanung. Damit wird festgelegt, wo Ärztinnen und Ärzte gebraucht werden - damit es nicht zu wenige, aber auch nicht zu viele Praxen gibt. Diese Planung übernimmt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). Lokal umgesetzt wird die Planung von den Kassenärztlichen Vereinigungen. Auch die Krankenkassen und Landesärzteausschüsse dürfen mitreden.
Dass es einen Mehrbedarf gibt, hat der Gemeinsame Bundesausschuss bereits vor sechs Jahren erkannt und rund 770 neue Sitze für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten erlaubt. Das sind zu wenige, findet die Bundespsychotherapeutenkammer. Nachvollziehbar - doch weitere Sitze, Zulassungen und Therapien verursachen ein offensichtliches Problem: Irgendjemand muss das bezahlen. Laut KBV-Chef Andreas Gassen würden dadurch die Krankenkassenbeiträge ansteigen. Das sei nur eine Frage der Finanzierung.
Forderung: mehr Therapeuten auf dem Land
Die lange Wartezeit auf Therapieplätze hat aus Sicht des gemeinsamen Bundesausschusses auch noch andere Gründe: Wenn Ärzte nur bestimmte Behandlungen anbieten und die empfohlene Therapie einfach nicht dabei ist. Oder wenn Arztpraxen zu wenige Sprechstunden anbieten. Außerdem hält der Bundesausschuss die Kassensitze zwischen Stadt und Land oder in bestimmten Regionen für ungleichmäßig verteilt. Eine Umverteilung sei die Lösung.
Auch Maaß ist der Ansicht, gerade auf dem Land brauche es mehr Therapeuten. Zudem müssten die Behandlungsressourcen der Psychotherapie besser verteilt und gesteuert werden - beispielsweise durch Künstliche Intelligenz. In der Notfallmedizin werde die Ersteinschätzung bereits elektronisch durchgeführt.
Die niedrigschwelligen Angebote müssten verbessert werden, fordert der Psychotherapeut. Schulen, Arbeitgeber und Hausärzte sollten noch mehr als bisher auf psychische Erkrankungen achten. Denn viele Betroffene warten zu lange, bis sie sich professionelle Hilfe suchen. Auch das verlängert die Zeit bis zur Behandlung.
Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?
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Quelle: ntv.de