Panorama

Legendäres Kriegsgefangenenlager Nazi-Gefängnis Colditz ist jetzt Ort der Versöhnung

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Museumskuratorin Regina Thiede mit Michael Kretschmer, Ministerpräsident von Sachsen, in Colditz.

Museumskuratorin Regina Thiede mit Michael Kretschmer, Ministerpräsident von Sachsen, in Colditz.

(Foto: Peter Littger)

Am Jahrestag der Befreiung von Schloss Colditz durch die US-Armee hat Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer mit einer "Feier unter ehemaligen Feinden" ein neues, multimediales Museum eröffnet. Die einstige Fluchtakademie der Alliierten sei heute ein Symbol der europäischen Zusammenarbeit.

In Deutschland gibt es laut Tourismuszentrale 25.000 Burgen und Schlösser - viele davon sehenswert und eine Reihe mit klingenden Namen wie Neuschwanstein, Sanssouci oder Moritzburg. Doch nur eine einzige Anlage lockt seit Jahrzehnten Besucher und Besucherinnen aus aller Welt an, während sie bei uns daheim weitestgehend unbekannt ist: Schloss Colditz in Sachsen.

Obwohl die Festung schon seit 1000 Jahren auf einem mächtigen Vulkanfels thront und den Fluss Mulde gemächlich an sich vorbeifließen lässt, waren es nur sechs Jahre im 20. Jahrhundert, die Colditz zum Inbegriff für Freiheitsliebe und zu einem internationalen Symbol für den Kampf gegen die nationalsozialistischen Kriegstreiber machten.

Von 1939 bis 1945 diente das Schloss als Gefängnis für alliierte Offiziere und Generale, die sich nicht alle mit ihrer Lage abfinden wollten und das Schloss zu einer bis heute weltberühmten "Escape Academy", also einer Fluchtschule machten. Während die Mauern von Colditz als ausbruchssicher galten, zeugen mehr als 20 Tunnel, viele heimlich konstruierte Utensilien wie Uniformen, ein Radio und sogar ein Gleitflugzeug von 300 teils sagenhaften Fluchtversuchen - die in 31 Fällen quer durch das Deutsche Reich und bis über eine neutrale Grenze gelangen. Dass sie der britische Geheimdienst "MI9" ausgerechnet mit einer Abteilung namens "Q" unterstützte, lässt Colditz im Rückblick wie eine reale Vorgeschichte erscheinen: zu den Abenteuern von James Bond.

Feiern mit Freunden, die früher Gefangene waren

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer von der CDU erklärte während einer Feierstunde in der vergangenen Woche, Colditz sei als ehemaliges Nazi-Gefängnis "ein Ort der Versöhnung" und "ein Ort der Freundschaft zu anderen Völkern". Weiterhin zeige es auch: "Das Friedenswerk Europa ist nicht vom Himmel gefallen, sondern wurde von Menschen geschaffen - auch hier!" Colditz sei deshalb "ein Symbol der europäischen Zusammenarbeit".

Digitale Animationen mit Histopads setzen Geschichte ganz neu in Szene. Die britische Botschafterin Jill Gallard und der britische Historiker Neil McGregor lassen sich die neue Technik von Regina Thiede und "Histovery" Gründer Bruno de Sa Moreira erklären.

Digitale Animationen mit Histopads setzen Geschichte ganz neu in Szene. Die britische Botschafterin Jill Gallard und der britische Historiker Neil McGregor lassen sich die neue Technik von Regina Thiede und "Histovery" Gründer Bruno de Sa Moreira erklären.

(Foto: Peter Littger)

Kretschmer sprach im ältesten Hof des Schlosses, wo während des Zweiten Weltkriegs ungefähr 2500 Soldaten aus mindestens zehn Nationen zu unzähligen Appellen angetreten waren. In den umliegenden Gebäuden, die als Unterkünfte der Kriegsgefangenen dienten - und in der DDR als Krankenhaus - hatten 500 Jahre zuvor die sächsischen Kurfürsten residiert. Viele Momente der Schlossgeschichte, vorrangig aus der Kriegszeit, werden fortan mit digitalen Animationen auf sogenannten "Histopads" in Szene gesetzt und können an den Orten des Geschehens - in leeren, zumeist unrenovierten Räumen - nachvollzogen werden.

Mit Colditz wirksam gegen rechts?

Der Ministerpräsident betonte, dass die historische Erinnerung einerseits von den "Revolvergeschichten" lebe: manchmal übertriebene und manchmal vereinfachte Heldensagen, die sehr viel über Colditz erzählt worden sind und die er seinen eigenen Söhnen schon erzählt habe. Andererseits liege in der Darstellung von Geschichte auch eine wichtige Mahnung gegen den "neu aufgekommenen Radikalismus" und "radikalen Populismus" - der nicht zuletzt im "ländlichen Raum" wie in Colditz zu beobachten sei, wo man mit dem neuen Museum einen bewussten Akzent setzen wolle.

Der Hinweis kam nicht nur knapp fünf Monate vor der Landtagswahl in Sachsen, bei der Kretschmer und seine Partei mit einer Mehrheit der AfD rechnen müssen, sondern auch taggenau 79 Jahre nach der Befreiung von Colditz durch das 273. Infanterieregiment der US-Armee.

Festung auf mächtigem Vulkanfels: Schloss Colditz.

Festung auf mächtigem Vulkanfels: Schloss Colditz.

(Foto: Regina Thiede, Staatliche Schlösser Sachsen)

Nachdem die amerikanischen Soldaten Colditz im April 1945 zwei Tage belagert hatten und zunächst auf kräftigen Widerstand von Truppen der Waffen-SS gestoßen waren, die in dieser Zeit noch 300 jüdische Zwangsarbeiter in einem anderen Lager südlich von Colditz ermordeten, konnten Stadt und Schloss am Morgen des 16. April kampflos eingenommen werden. Erleichtert wurde das US-Kommando dadurch, dass die Wehrmacht am 14. April die Kontrolle und sprichwörtlich die Schlüssel des Schlosses an die alliierten Insassen übergeben hatte, die sich schließlich am Schlosstor leicht in englischer Sprache mit den ankommenden GIs verständigen konnten.

Der britische Hauptmann und Lagerzahnarzt Julius Green notierte daraufhin in seinem Tagebuch, Colditz sei von den Nazis befreit - eine Feststellung, die heute angesichts der Mehrheit der rechtsextremen AfD und insbesondere durch die Aufmärsche und Störaktionen radikaler rechtsgesinnter Gruppen in der Gegend nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Vor diesem Hintergrund äußerte Christian Striefler, Geschäftsführer der Schlösser, Burgen und Gärten in Sachsen, den Wunsch, "dass die Sachsen Colditz und die Colditzer Colditz entdecken": "Es wäre schön, wenn wir in einer Region, die Dinge in sich trägt, die nicht alle in diesem Raum gut finden, mit dem neuen Museum einen Kontrapunkt setzen."

Juden waren in Schloss Colditz sicher

In größerer Sicherheit als an jedem anderen Ort ...

In größerer Sicherheit als an jedem anderen Ort ...

(Foto: Peter Littger)

Der ebenfalls anwesende britische Historiker Neil MacGregor, der von 2002 bis 2015 das British Museum in London und danach bis 2018 das Humboldt Forum in Berlin geleitet hatte (und der überraschenderweise erklärte, zum ersten Mal in Colditz zu sein), nutzte die Gelegenheit, über die Sonderstellung von Colditz in der jüngeren deutschen Geschichte zu sprechen. "Es geht hier nicht in erster Linie um die Geschichte des Adels und das Schicksal von Königen und Prinzen, sondern es geht um die wirklich wichtige Geschichte von Gesellschaft", so MacGregor.

Der im Kriegsverlauf einmalige Rollentausch von Bewachern und Bewachten sei dabei genauso bemerkenswert wie der historische Umstand, dass sich im Lager mehrere Dutzend jüdische Gefangene befanden: vor allem Franzosen und nicht zuletzt auch Julius Green. "Sie waren in Colditz in größerer Sicherheit als an einem anderen Ort im Reich oder im nicht besetzten Teil Frankreichs", betonte MacGregor und begründete dies damit, "dass sich die wachhabenden Deutschen, etwa Hauptmann Reinhold Eggers, stets korrekt und fair verhalten und die Regeln der Genfer Konvention nie verletzten hätten". Dass Julius Green allerdings zugleich als Spion für den britischen Geheimdienst tätig war und sich damit tatsächlich mehr gefährdete als durch seine Religion, während die nicht-jüdischen französischen Offiziere offen antisemitisch auftraten und von der deutschen Lagerleitung verlangten, nicht mit ihren jüdischen Kameraden untergebracht zu werden - das wurde während der Feststunde in Colditz nicht thematisiert.

Für solche Details empfiehlt sich eine Führung durch das neue Museum - oder das neueste Buch von Ben Macintyre: "Colditz. Prisoners of the Castle". Dass es übrigens nicht auf Deutsch übersetzt vorliegt, obwohl es längst ein Bestseller ist und von einer britischen Tochter des deutschen Bertelsmann-Verlags herausgegeben wird, ist wiederum bezeichnend für das Schicksal eines deutschen Ortes, den in Deutschland fast niemand kennt: Man erinnert sich offenbar nicht gerne an ein Hochsicherheitsgefängnis, das nicht funktionierte. Wer weiß - vielleicht wird daran das neue Museum mit dem englischen Namen "Lost Place Colditz" etwas ändern.

Quelle: ntv.de

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