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Getötete Familie aus Starnberg Nimmt Mordprozess "spektakuläre Wende"?

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Der 20-jährige Samuel V. soll B. zum Tatort gefahren haben und ist als Mittäter angeklagt.

(Foto: picture alliance/dpa)

Der Prozess um den Dreifachmord von Starnberg wirft bisher viele Fragen auf: Sind B. und V. wirklich die Täter? War es doch Suizid? Nun tauchen neue Spuren auf - ein Video vom Tatort belastet einen der Angeklagten. Spur 7 führt jedoch in eine ganz andere Richtung.

"Dieser Fall dürfte in der deutschen Kriminalgeschichte der Nachkriegszeit einmalig sein", sagt der Strafverteidiger Alexander Stevens über den Dreifachmord von Starnberg. Eine ausgelöschte Familie, ein 21-jähriger Waffennarr und eine Menge Unsicherheiten - es gibt vieles, das den Prozess um die getötete Familie P. so besonders macht. Schließlich sind es die neuen Erkenntnisse und Indizien in diesem Fall, die zu einer "spektakulären Wende für die Verteidigung" beitragen. So zumindest ordnet sie Stevens in einer Erklärung in den sozialen Medien nach dem dritten Verhandlungstag ein. Der Jurist ist einer von drei Verteidigern des 20-jährigen Samuel V., der gemeinsam mit Maximilian B. wegen Mordes, schwerem Raub und Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz angeklagt ist.

In der Nacht zum 11. Januar 2020 soll der 21-jährige B. seinen Kumpel Vincent P. sowie dessen Eltern in ihrem Einfamilienhaus im Norden des bayerischen Starnbergs erschossen haben. Laut Staatsanwaltschaft hat B. aus Habgier gehandelt - er sei chronisch pleite und wollte an die Waffen des getöteten Vincent P. gelangen. Samuel V. habe ihn zum Tatort gefahren und dort auch wieder abgeholt - wohl wissend, dass B. eine Familie ermorden wolle. Dafür klagt ihn die Staatsanwaltschaft als Mittäter an.

Eigentlich passiert in deutschen Gerichtssälen in den ersten Prozesstagen wenig Unerwartetes: Die Staatsanwaltschaft verliest die Anklage, also die Version der Tat, die sie für die richtige hält. Dann beginnt die Beweisaufnahme - Zeugen sagen aus, Gutachten werden verlesen. Schon am ersten Tag verläuft dieser Prozess jedoch ein wenig anders. Die Verteidiger des Angeklagten Samuel V. erinnern mit ihren Eröffnungserklärungen an US-Gerichtsszenen - sie sind emotional, zitieren aus Franz Kafkas "Der Prozess" und gehen die Anklage scharf an.

Vor allem aber säen sie erste Zweifel an der Tatversion von Staatsanwalt Stefan Kreutzer. Sie sagen, das Hauptindiz der Anklage gegen Maximilian B. und Samuel V. basiere lediglich auf "Flüsterpost". B. hatte die Tat nämlich "spontan" gegenüber einer Ermittlerin gestanden. Das Gedächtnisprotokoll der Beamtin wird im Prozess zwar verlesen, B. selbst jedoch schweigt zur Tat. Und wäre es nicht auch möglich, dass die Tatnacht ganz anders verlief?

"Dann lass' ich euch mal weiterschlafen"

Dann taucht ein Video auf. Zu sehen ist der Tatort im Einfamilienhaus der getöteten Familie P. Die Handykamera hält auf die Leiche des blutüberströmten Vincent P., während der Filmende gänzlich ungerührt sagt: "Der atmet noch, hm." Im Elternschlafzimmer, wo die Leiche des Vaters in der offenen Tür liegt, löscht die Person am Tatort das Licht und sagt: "Dann lass' ich euch mal weiterschlafen." Das Video wurde nach Angaben der Staatsanwaltschaft erst kurzfristig als Beweismittel eingeführt. Es wurde kurz nach der Tat auf dem Handy des Angeklagten Maximilian B. rekonstruiert und könnte ein Indiz für seine Täterschaft sein. Auch eine Vielzahl von Waffen, die seinem getöteten Freund Vincent gehörten, wurden später bei ihm gefunden.

Doch was ist, wenn der 21-Jährige zwar kurz nach der Tat im Haus der Familie war und die Waffensammlung mitgenommen hat, Vincent P. und seine Eltern jedoch bereits tot waren? Für die Verteidigung um Alexander Stevens ist dieses Tatszenario durchaus schlüssig. Denn die Tatwaffe, laut "Süddeutscher Zeitung" eine sogenannte Selbstladepistole Walther Zella-Mehlis, Modell 9, Kaliber 6,35 Millimeter, wurde von den Ermittlern in der rechten Hand vom Sohn der Familie gefunden.

Selbst die Ermittler gingen rund eine Woche davon aus, dass der 21-Jährige P. erst seinen Vater und seine Mutter und schließlich sich selbst erschoss. Kurz nach der Tat hatte eine Freundin der getöteten Mutter diese These unterstützt. Die Pädagogin hatte laut der "Süddeutschen Zeitung" gegenüber der Polizei nicht ausschließen wollen, dass ein "großes Unglück" in der Nacht vom 10. auf den 11. Januar 2020 in dem Haus in Starnberg geschah. Die Familie hätte "heftig gestritten". Auch die 65-jährige Patin des getöteten Vincent P. hatte erwähnt, dass dieser "kein "einfaches Kind" gewesen sei. Als sie am zweiten Prozesstag aussagten, gaben beide jedoch an, dass sie nicht davon ausgingen, dass Vincent seine Eltern und sich erschossen hatte. Vincent P. habe eine "innige Beziehung" zu seiner Mutter gehabt.

Suizid überhaupt möglich?

Mittlerweile geht auch die Polizei nicht mehr von einem "Doppelmord mit anschließendem Suizid" aus - oder genauer: Sie zweifelte laut einer Kriminalhauptkommissarin von Anfang an dieser Hypothese. Die Lage des Getöteten habe "viele Fragezeichen aufgeworfen", erklärte die Beamtin am zweiten Verhandlungstag vor Gericht, wie die "Süddeutsche Zeitung" berichtete. Demnach sei "Vorsicht geboten", wenn eine Leiche die Pistole noch in der Hand hält. Normalerweise falle einem Suizidenten in dem Moment, in dem er sich tötet, die Waffe nämlich aus der Hand, zitiert die Zeitung die Kommissarin. Die Staatsanwaltschaft wertet das nun als Indiz dafür, dass Maximilian B. die Familie getötet habe. Anschließend - so ihre Erklärung - habe er die Waffe so in der Hand von Vincent P. drapiert, dass es nach einem Selbstmord aussieht.

Für die Verteidiger des Angeklagten Samuel V. war der Familienstreit ohnehin nur eins "von einem Dutzend weiterer Tatszenarien", die "sich zwanglos mit dem aufgefundenen Spurenbild in Einklang bringen" lassen. B. könnte V. in Notwehr erschossen haben, es könnte sich um einen Auftragsmord gehandelt haben oder jemand ganz anderes könnte in die Tat verwickelt sein - Strafverteidiger Alexander Betz spielte in seiner Eröffnungserklärung sieben Theorien durch.

Und dann kam der dritte Verhandlungstag - und mit ihm die Spur 7, wie der "Spiegel" berichtete. Das Gutachten eines Waffenexperten vom Landeskriminalamt "trudelte erst heute oder gestern ein", so Strafverteidiger Stevens. Demnach durchsuchten die Ermittler sämtliche Wohnungen von Freunden des getöteten Vincent P. und wurden bei einem Zeugen fündig. In seiner Wohnung befanden sich Waffen und ein Projektil von Millimeter Durchmesser - die Spur 7.

Spur 7 birgt Rätsel

Die Untersuchung hat ergeben, dass es sich dabei um Munition aus der Tatwaffe handelt, wie die Staatsanwaltschaft bestätigte. Die Tatwaffe muss also bei der aufgefundenen Kugel gewesen sein. Wurde mit ihr vielleicht vor der Tat bei dem Zeugen zu Hause geschossen? Oder stammt die Kugel vom Tatort? "Bei letzterem wäre dann schon sehr erklärungsbedürftig seitens des Freundes, warum diese Kugel plötzlich bei ihm zu Hause ist", sagt Verteidiger Stevens. War er etwa auch am Tatort? Diese neue Erkenntnis sei eine "spektakuläre Wendung" in dem Fall um den Dreifachmord von Starnberg. "Wir haben eine weitere Alternative, wie das Ganze abgelaufen sein könnte", meint jedenfalls Stevens.

Für die Staatsanwaltschaft ändert sich hingegen weniger. "Die Durchsuchung bei dem Freund fand Ende Mai letzten Jahres statt", sagte eine Sprecherin. "Ein Tatverdacht hinsichtlich einer Beteiligung des Freundes an dem sogenannten Dreifachmord hat sich nach Auswertung aller bislang vorliegenden Erkenntnisse nicht ergeben." Die Vorsitzende Richterin Regina Holstein spricht von "Nebel", den die Hauptverhandlung werde lichten müssen. Ob "spektakuläre Wendung" oder nicht - die neusten Funde und Erkenntnisse werden dem Gericht diese Aufgabe nicht leichter machen.

Quelle: ntv.de, Mit dpa

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