Panorama

Eine für alle Der Blick zum Horizont

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Vater und Tochter - keine einfache Beziehung. Auf dem Bild Spencer Tracy und Elizabeth Taylor in "Vater der Braut".

Vater und Tochter - keine einfache Beziehung. Auf dem Bild Spencer Tracy und Elizabeth Taylor in "Vater der Braut".

(Foto: imago/Cinema Publishers Collection)

Das Ende des Jahres steht vor der Tür. Alles erledigt? Weihnachten überlebt? Das Käse-Fondue-Set wiedergefunden? Pläne für 2025 stehen? Auf Praktikabilität überprüft? Naja, ein paar Tage haben Sie ja noch. Die Kolumnistin erspart Ihnen übrigens einen typischen Rückblick und hat schon gar keine Tipps, erst recht keine moralischen.

Natürlich, ich möchte, dass die Kriege aufhören, dass niemand erfriert, verhungert oder mit dem Flugzeug abstürzt. Ich erwarte geradezu, dass niemand Unschuldige auf einem Weihnachtsmarkt überfährt. Ich habe großes Interesse daran, dass es der Welt gut geht, allein schon deswegen, weil ich Kinder habe, auf Enkel hoffe und mich oft genug fragen muss, was wir den nächsten Generationen an Mist hinterlassen. Und was wir an Schönem nicht mehr hinterlassen, weil kaputt oder ausgestorben.

Was mich dieses Jahr allerdings zu Weihnachten am meisten interessiert hat, war: Schaffen wir das Fest mit dem alten, kranken Vater? Das hat meine persönliche Welt bewegt, das versetzt mich Jahr um Jahr in größere Anspannung, das bereitet mir hin und wieder schlaflose Nächte. Nie und nimmer hätte ich gedacht, dass mich das Thema Eltern insgesamt einmal so beschäftigen könnte, man nimmt sie schließlich so hin. Ohne sie wäre man ja gar nicht da. Sie hingegen sind gefühlt schon immer da. Was einem erst später klar wird: Sie werden nicht für immer da sein. Das macht die Sache mit der Anspannung um Weihnachten herum nicht gerade besser, aber es bringt echt viel, wenn man es endlich kapiert. In meinem Hinterkopf singt Sting "Fragile", und ich denke, ja, wie fragil das Leben doch ist.

Wehmut und Aufbruch liegen zwischen den Jahren so nah beisammen wie sonst nie ...

Wehmut und Aufbruch liegen zwischen den Jahren so nah beisammen wie sonst nie ...

(Foto: imago images/Everett Collection)

Oscarreif

Ganz früher hat es mich interessiert, was ich zu Weihnachten geschenkt bekomme. Dann hat es mich interessiert, was ich zu Weihnachten verschenken werde. Jetzt interessiert es mich, ob sich alle verstehen, jeder die Möglichkeit hat, glücklich zu sein, und dass wir in unseren eigenen vier Wänden zufrieden sind. Das Thema Essen ist wichtig. Das ist alles nicht ohne, schon allein wegen diverserer Allergien. Außerdem ist Weihnachten mit Emotionen befrachtet wie kaum ein anderes Fest, kaum eine andere Zeit. Und alle tun so, als würde man sich eventuell nie wieder sehen - oder was bedeutet die Frage: "Sehen wir uns vorher noch?" Bevor was? Bevor das Jahr endet und der 1.1. vor der Tür steht und das Leben tatsächlich so weitergeht wie bisher? Denn so ist es ja. Dennoch versuchen wir, Dinge zu erledigen, zu beenden, um dann neu zu starten. Und das ist auch gut so. Ich glaube, der Mensch braucht das, immer wieder ein Reset, einen Neustart, ein Aufräumen und ein Ausräumen.

Nun, im Nachhinein kann ich sagen, ohne auf Details einzugehen, das mit dem alten Vater ist in diesem Jahr für mich ganz gut gelaufen. Ich muss das alles ja zum Glück auch nicht alleine wuppen. Neulich sah ich ein Video von Mick Jagger, er übte neue Dance-Moves. Mit seinen spindeldürren Beinchen hüpfte er wie ein Zwanzigjähriger vor einer Ballettstange und einem Spiegel herum. Mein Dad ist nur unwesentlich älter als Mick Jagger, aber wesentlich eingeschränkter. Weder verfügt mein Vater über die Karriere eines Rockstars noch über eine wesentlich jüngere Frau, mit der er auch noch ein sehr junges Kind hat, zusätzlich zu den alten Kindern. Mein Vater hat nur alte Kinder, dafür einige Enkel, er sitzt im Rollstuhl, er kann sich kaum noch bewegen. Körperlich wie geistig. Ein großer, erfolgreicher Mann war er, sportlich, klug, lustig, mit einem beneidenswerten, erfüllten Leben. Und doch macht ihm nun, auf den letzten Metern, eine fiese Krankheit einen Strich durch die Rechnung. Sein Gehirn weiß ganz einfach nicht mehr, wie es die Befehle an, sagen wir, Füße und Beine, senden soll, um selbstständig zu laufen.

Auch ist er nicht mehr fähig zu zeigen, ob er Freude empfindet. Zumindest scheint sein Gehirn diese Dinge nicht mehr in die Praxis umsetzen zu können. Das ist sehr traurig. Aber was wissen wir schon, was hinter einer Stirn wirklich vor sich geht? Die Krankheit Demenz ist so tückisch, dass ich davor inzwischen mehr Angst habe als vor Schlaganfall, Krebs und Co. "Erkennt er euch noch?" werde ich von Freunden gefragt. Ja, das tut er, oft. Ich bin inzwischen aber auch oscarreif in der Rolle meiner Mutter (er und ich unterhalten sich dann über mich, ihr Kind), und manchmal bin ich auch "die große blonde Frau", die alles erledigt. Die geht ihm ganz gehörig auf die Nerven, weil sie auch so Sachen sagt wie: "Stell' dich nicht so an" oder "Ich bin doch nicht deine Assistentin/ Frau/ Mutter". Aber die nette Tochter, die ich meistens bin, ist die anstrengendste Rolle, denn die ist an echt vielem schuld. Das wird ihr jedenfalls so vermittelt. Ich versuche, das nicht persönlich zu nehmen und schiebe diese Schmach gern auf eine meiner multiplen Persönlichkeiten ab.

Im Rausch der Tiefe

Ich bin mir mittlerweile sicher, dass ich "so" nicht enden möchte, auch wenn die Chancen für mich gar nicht schlecht stehen, so zu enden. Doch ich stelle mir dann vor, auf dem Rücken eines Delfins in die Tiefen des Ozeans abzutauchen, ganz wie die Filmfigur Jaques in "Im Rausch der Tiefe". Doch ist es nicht feige, sich einfach so zu verpissen? Nun, wir werden sehen.

Ich möchte meinen Kindern nicht zumuten, mich pflegen zu müssen. Mich zu füttern, den Sabber vom Kinn zu wischen, die Barthaare auf der Oberlippe zu zupfen. So stelle ich ihn mir zumindest immer wieder vor, meinen Verfall. Vielleicht wäre es aber auch eine Zumutung, sich zu früh zu verabschieden. So wie meine Mutter sich zu früh verabschiedet hat, nicht freiwillig natürlich. Auf der anderen Seite bin ich nämlich sehr froh, dass mein Vater noch da ist, wenn auch in einem anderen Aggregatzustand als früher. Er ist mein Horizont, zu dem ich schaue. Der Horizont, zu dem ich unweigerlich werde, wenn er nicht mehr da ist und ich die Rolle der Alterspräsidentin zumindest in meiner direkten Familie übernehme.

Was wünsche ich ihm und mir nun für 2025? Und Ihnen? Ich habe bereits mein Lieblingshoroskop in einer renommierten Frauenzeitschrift gelesen, meine Top-Monate werden Juni und Juli (Urlaubszeit, easy) und der Dezember (besser spät als nie, ich bin jung, ich kann warten). Ich will aber realistisch bleiben (typisch für mein Sternzeichen): Ich wünsche mir und uns, dass wir mit den Prüfungen, die uns das Leben aufgibt, umgehen können, dass wir sie bestehen. Und ich wünsche Ihnen, dass Sie nun gut ins Neue Jahr kommen. Vor allem, dass es gut bleibt, wenn Sie mittendrin sind.

Quelle: ntv.de

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