Holocaust-Überlebender bei Lanz "Alle Attribute eines Menschen wurden uns abgenommen"
31.01.2024, 05:12 Uhr Artikel anhören
Leon Weintraub kam mit 13 Jahren nach Auschwitz. Seine Mutter wurde sofort nach der Ankunft in die Gaskammer geschickt.
(Foto: picture alliance/dpa)
Es gibt immer weniger Überlebende des Holocaust, die von den Gräueltaten der Nazis berichten können. Einer von ihnen ist der 98-jährige Leon Weintraub. Er kämpft nicht nur gegen das Vergessen, sondern auch gegen diejenigen, die an die Ideologie des NS anknüpfen.
Als die Nazis Polen überfallen, ist er 13 Jahre alt. Er lebt mit seiner Mutter und seinen vier Schwestern in der polnischen Stadt Lodz. Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ist, hat er vier Konzentrationslager überlebt. Bei seiner Befreiung wiegt der inzwischen 19-Jährige noch 35 Kilo. Weintraub ist wegen des Gedenkens an die Befreiung des KZ Auschwitz am 27. Januar 1945 nach Deutschland gekommen und am Dienstagabend Gast bei Markus Lanz im ZDF. Dass am 27. Januar an die Befreiung des KZ erinnert wird, ist für ihn "ein sichtbarer, fassbarer Beweis, dass das, was geschehen ist, nicht in Vergessenheit gelassen wird, und vor allem die Würdigung und Ehrung der Opfer des Nationalsozialismus." Und man möchte hinzufügen: Die Ehrung derer, die das Grauen überlebt haben, das Menschen anderen Menschen zugefügt haben.
"Es war eine Totenstille"
Weintraub hat fast fünf Jahre im "Ghetto Litzmannstadt" überlebt. Er spricht selbst von Litzmannstadt, nicht von Lodz, wenn er über das Ghetto berichtet. Denn es seien deutsche Nazis gewesen, die es errichtet hätten, sagt er. Er macht diesen Unterschied, obwohl er Antisemitismus auch später in seiner polnischen Heimat erlebt hat. Dort hat er als Arzt und Geburtshelfer gearbeitet, bis er sich entschloss, 1969 nach Schweden auszuwandern. Er konnte den wachsenden Judenhass in seiner Heimat nicht mehr ertragen.
Es ist 1944, als seine Familie nach Auschwitz deportiert wird. An die Fahrt im Viehwagon kann er sich kaum noch erinnern. Er weiß nur noch, dass er die ganze Zeit stehen musste. Und dass es einen Eimer für die Notdurft gab. "Der stand links hinten in der Ecke", erinnert er sich.
Wohin der Zug fährt, weiß er nicht. "Es ist uns niemals gesagt worden, wann und wohin wir gebracht werden", erzählt Weintraub bei Lanz. Dann hält der Zug an seinem Ziel. "In Auschwitz-Birkenau herrschte eine Todesstille. Kein Ausdruck von Empörung oder Enttäuschung. Keine Proteste. Alle sind wie gelähmt. Man hört überhaupt kein Wort. Dann wird eine Tür aufgerissen, merkwürdige Gestalten in blau-grau-weiß gestreiften Schlafanzügen, Und dann nur das Wort: Raus, raus, raus." An diesem Tag im August 1944 sieht Weintraub seine Mutter das letzte Mal. Sie wird noch am selben Tag in der Gaskammer ermordet.
Die Gefangenen werden getrennt: Frauen rechts, Männer links. Aus dem Augenwinkel sieht Weintraub über dem Stacheldrahtzaun weiße Ventilatoren und Leitungen. Da weiß er: Der Zaun ist elektrisch geladen. Und plötzlich wird ihm klar, dass er Gefangener ist.
Leon Weintraub landet bei den Arbeitsfähigen. "Und dann fing das an, was ich die "Prozedur der Entmenschlichung" nenne", berichtet er. "Alle Attribute eines Menschen wurden uns abgenommen." Weintraub muss seine Kleider und alles abgeben, was er mit sich trägt. Dann die Dusche, danach die Entlausung. Dazu werden alle Körperhaare von Mithäftlingen mit einer Haarschneidemaschine abgeschnitten. "Da ist so mancher Hautfetzen mitgekommen", sagt Weintraub.
Die nächste Etappe: Die Desinfektion. Weintraub erinnert sich an einen Trog mit einer nach Phenol riechenden Flüssigkeit. Es sind andere Häftlinge, die ihm mit einer Art Wischmop die Flüssigkeit auf Unterleib, Arme und Kopf streichen. Wo die Flüssigkeit auf Wunden trifft, brennt es fürchterlich. Schließlich werden ihm Hose, Hemd und Jacke zugeworfen. Er muss sich ein paar Holzschuhe aus einem Stapel heraussuchen. Dann ist er endgültig im KZ. "Wir wurden aufgeteilt in verschiedene Blocks, nicht in Baracken, sondern in Blocks. Ich war als Jugendlicher im Block Nr. 10."
Leon Weintraub ist völlig allein. Er kennt niemanden, spricht mit niemandem. Er sei in eine Art Katatonie gefallen. "Dazu kam der furchtbar drückende, lästige Gestank", erzählt er. Das, was er riecht, ist die Asche der Menschen, die nach der Vergasung verbrannt werden. Doch das soll er erst später erfahren.
Die nackten Männer
Durch einen Zufall wird er aus dem Todeslager gerettet. Er sieht eine Gruppe von ungefähr 200 Männern auf dem Hof stehen, fragt einen, was er da tue. Sie seien ein Arbeitskommando, sie sollten sich Kleidung besorgen, denn sie kämen raus. Kurz entschlossen entledigt sich Weintraub der Lumpen, die er noch am Leibe trägt, und stellt sich dazu. So gelangt er nach Groß-Rosen, wo er als Elektriker arbeitet. Seine Flucht aus dem KZ Auschwitz rettet ihm das Leben. Nur wenige Tage später werden die meisten Bewohner seines Blocks in den Gaskammern des Konzentrationslagers ermordet.
Er überlebt drei weitere KZs und einen Todesmarsch, macht später in Göttingen eine Ausbildung zum Frauenarzt. Seit über dreißig Jahren ist er im Ruhestand und berichtet über das, was er während des Dritten Reiches erlitten hat. "Das ist eine Art Verpflichtung", sagt er. Sein Kampf gilt aber nicht nur dem Vergessen. Er wehrt sich auch gegen Holocaustleugner. Und: "Die leider immer stärker wachsende tausendköpfige Hydra von Rechtsradikalen, die wieder die Worte der NSDAP, die Ideologie von Hitler, Goebbels und Rosenberg aufgreifen."
Leon Weintraub sagt: "Es gibt böse Menschen, die auf andere herabschauen. Sie nehmen sich das Recht, andere zu missachten. Diese Haltung haben wir am eigenen Leibe erfahren. Und sie führt geraden Weges zur Gaskammer."
Quelle: ntv.de