Erschreckende Indizien Anklage: Prinz Reuß wollte "einen nach dem anderen" umlegen


Heinrich XIII. Prinz Reuß war laut Anklage der Rädelsführer eines Terror-Netzwerks.
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Ab heute stehen die mutmaßlichen Köpfe des "Reichsbürgernetzwerks" um Prinz Reuß vor Gericht. Zum Prozessauftakt steht der 72-jährige Immobilienunternehmer selbst im Fokus. Die Anklage gibt erste Einblicke in seine mutmaßlichen Pläne, die vor Demokratiefeindlichkeit und Gewaltfantasien nur so triefen.
Es birgt eine gewisse Ironie, dass im Frankfurter Industriegebiet am Dienstagmorgen vieles an die Stunden vor einem royalen Besuch erinnert: Dutzende Polizeiwagen parken vor der Außenstelle des Oberlandesgerichts, etliche Beamte in schusssicheren Westen säumen das Gelände. In der Hoffnung auf einen Platz im Saal stehen sich Medienvertreter, Studentengruppen und Rentner schon im Morgengrauen vor den geschlossenen Toren die Beine in den Bauch. Kurz vor Prozessstart mischen sich Neugierde und Aufregung in die stickige Luft des Zuschauersaals. "Des Prinzen großer Auftritt", raunt eine Studentin ihrem Sitznachbarn noch zu. Dann öffnet sich die Tür zum Verhandlungsraum.
Mit rund einer Stunde Verspätung betritt Heinrich XIII. Prinz Reuß den Gerichtssaal. Es ist so ruhig, man kann beinahe eine Stecknadel fallen hören. Journalisten aus aller Welt pressen ihre Nasen an die gläserne Trennscheibe oder recken ihre Hälse vom Sitzplatz aus um die Wette. Jede und jeder erhofft sich den ersten Blick auf jenen Mann, der sich mutmaßlich zum Staatsoberhaupt eines autoritär regierten Deutschlands putschen wollte.
Rund eineinhalb Jahre ist es her, dass das Foto von Prinz Reuß bei seiner Verhaftung um die Welt ging. Das einst adelige Auftreten des Immobilienunternehmers ist mittlerweile offensichtlich verblasst: das Gesicht deutlich schmaler, die grauen Haare kürzer, die Brille moderner. Auch Tweed-Sakko und Cordhose sind an diesem Morgen einem schlichten schwarzen Anzug samt weißem Hemd gewichen.
Die zentrale Figur
Es braucht kaum ein paar Sekunden, um festzustellen, dass es einen "großen Auftritt des Prinzen" nicht geben wird. Im Gegenteil. Zwischen den Justizbeamten, die ihn zur Anklagebank eskortieren, geht der hagere Mann beinahe unter. Der Spross einer einstigen Adelsfamilie huscht auf seinen Platz, blickt dabei nicht einmal in die Zuschauermenge. Manchmal lächelt er milde, öfter blickt er verunsichert zu seinen Verteidigern. Es wirkt, als würde sich der 72-Jährige nach eineinhalb Jahren Untersuchungshaft fragen, was er in diesen Stunden im Hochsicherheitsgerichtssaal Frankfurt zu suchen hat.
In dem Fall dürfte die Antwort wohl kaum deutlicher ausfallen: Heinrich XIII. Prinz Reuß ist die zentrale Figur in einem der größten Staatsschutzverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik. Um ihn herum soll ein Netzwerk aus "Reichsbürgern" den Umsturz der staatlichen Ordnung geplant haben. Laut Generalbundesanwaltschaft warteten Reuß und seine Anhänger auf einen gewissen "Tag X", an dem sie bewaffnet in den Reichstag eindringen, Abgeordnete festnehmen und so einen Systemsturz herbeiführen wollten. Anschließend, so mutmaßlich der Plan, sollte eine Übergangsregierung eingesetzt werden: ein autoritäres Regime, das die Reuß-Gruppen in ihren Grundzügen bereits skizziert hatte - und an dessen Spitze der Prinz selbst stehen sollte.
Bei einer gigantischen Anti-Terror-Razzia im Dezember 2022 zerschlugen die Sicherheitsbehörden das Netzwerk. Angeklagt wurden schließlich 26 Anhängerinnen und Anhänger der Reuß-Gruppe. Wegen seiner Dimension - allein in Frankfurt ist die Rede von 801 Aktenordnern - wurde das Mammutverfahren auf drei Oberlandesgerichte (OLG) aufgeteilt. Den Auftakt machte das OLG Stuttgart Ende April, wo sich der militärische Arm der Gruppe verantworten muss, ab Juni sitzen weitere Mitglieder in München vor Gericht.
Chaos zum Prozessstart
Der nun vor dem Oberlandesgericht Frankfurt startende Prozess dürfte der aufsehenerregendste von ihnen sein: Hier sitzen die mutmaßlichen Köpfe der Reuß-Gruppe - der sogenannte Rat - auf der Anklagebank. Zu den insgesamt neun Männern und Frauen zählt Prinz Reuß selbst, die ehemalige Richterin und AfD-Abgeordnete Birgit Malsack-Winkemann sowie der ehemalige Oberstleutnant und Kommandeur eines Fallschirmjägerbataillons der Bundeswehr, Rüdiger von Pescatore.
Der Prozessstart beginnt mit Verzögerungen, erst am Mittag kann die Generalbundesanwaltschaft mit der Verlesung einer Essenz der im Original 617 Seiten langen Anklageschrift starten. Nach dem Auftakt in Stuttgart und etlichen Medienberichten sind die Vorwürfe gegen Reuß und seine Anhänger im Wesentlichen bekannt. Trotzdem sorgt der zweistündige Vortrag der Anklage - die teilweise bis ins letzte Detail durchdachten Pläne und enormen Gewaltfantasien, von denen Deutschlands Chefankläger ausgeht - für Schlucken im Zuschauerraum.
So beschreibt Deutschlands Chefankläger detailliert, wie sich die mutmaßliche Terror-Gruppe im Juni 2021 gründete. Das oberste Ziel: der Sturm des Reichstags - und damit die Absetzung der deutschen Demokratie. Was zunächst absurd, mindestens größenwahnsinnig klingt, war laut Anklage in seiner Vorbereitung erschreckend weit fortgeschritten. Immer wieder rekrutierte die Gruppe militärisches Personal. Auch ein gigantisches Waffenarsenal war bereits vorhanden, mit rund 380 Schusswaffen, beinahe 350 Hieb- und Stichwaffen, 500 weiteren Waffen und mindestens 148.000 Munitionsteilen. Zur Vorbereitung sei ein Schießtraining veranstaltet worden - bei diesem Treffen sollte auch das Personal für den besagten "Tag X" ausgewählt werden.
Die mutmaßlichen "Säuberungs"-Pläne
Bis ins kleinste Detail seien die Pläne bereits ausgetüftelt und festgehalten worden. So wurden etwa Entwürfe für "Wehrpässe" eines neuen Deutschlands gefunden. Es gab Kleidungslisten, in denen die Kämpfer ihre Schuhgröße auswählen konnten, und schließlich fertig gepackte Einsatztaschen. Verbunden sei die Gruppe durch Verschwörungstheorien der "Reichsbürgerszene" gewesen. So glaubte sie etwa an einen Deep State - eine nicht existierende Elite, die aus dem Untergrund agiert und alle Fäden staatlichen Handelns in der Hand hat. Der "Tag X" sollte schließlich durch ein Signal einer nicht näher konkretisierten Allianz beginnen.
Für die Reuß-Gruppe, die sich selbst Patriotische Union nennt, würde laut Anklage mit diesem Tag die eigentliche Arbeit losgehen. Insgesamt 286 sogenannte Heimatschutzkompanien sollten Deutschland von Grund auf umkrempeln. Es ging demnach beispielsweise darum, Beamte aus örtlichen Behörden zu entlassen, die sich freiwillig mit einem mRNA-Impfstoff gegen Corona impfen ließen. Wo Entlassungen zu den vergleichsweise harmlosen mutmaßlichen Plänen zählten, spricht die Anklage an anderen Stellen von "Säuberungen" und dem "Neutralisieren" von "konterrevolutionären Kräfte aus dem linken und islamischen Milieu".
Es sind Beispiele für gewalttätige und menschenverachtende Aktionen, die die mutmaßlichen Verschwörer laut Anklage planten, um ihr eigenes Regime - basierend auf ihrer eigenen Ideologie - zu errichten. Getrieben waren die Angeklagten, so nimmt es die Generalbundesanwaltschaft an, von einer tiefen Ablehnung der staatlichen Institutionen und der freiheitlich demokratischen Grundordnung.
"Schluss mit lustig"
Nun mag ein gemeinsamer Hass auf den Rechtsstaat die Gruppe verbunden haben. Um die Pläne, von denen die Anklage ausgeht, umsetzen, brauchte es trotzdem eine Art Drahtzieher - jemanden, der die sonst so heterogene Gruppe verbindet. In genau dieser Rolle sieht die Generalbundesanwaltschaft Prinz Reuß. Jener Mann, den ein unwissender Prozessbeobachter ohne zu zögern äußerst behutsam aus dem Gericht geleiten möchte, soll das Kommando über die demokratiefeindlichen und menschenverachtenden Ideen der Gruppe gehabt haben.
Auf seinem Jagdschloss in Thüringen soll er geplant haben, Truppen zu organisieren. Laut Anklage befeuerte er seine Gruppe "die Kalaschnikow zu laden". Einmal, so legt es das Protokoll eines abgehörten Telefonats nahe, sei ihm der Kragen geplatzt. "Wir machen sie jetzt alle platt." Es blieb offenbar nicht bei der einen Drohung. "Ja gut, dann legen wir einen nach dem anderen von den Typen um", schrie der Angeklagte bei einem anderen Gespräch ins Telefon, wie die Generalbundesanwaltschaft ausführt.
Zu den Drohungen, den Aufforderungen, kam laut Anklage die praktische Unterstützung: Für die Treffen der mutmaßlichen Verschwörer soll der Prinz sein Jagdschloss zur Verfügung gestellt haben. Auch soll er es gewesen sein, der sich mit den Plänen an russische Vertreter wandte, um Unterstützung aus Moskau zu erhalten. 14 Satellitentelefone soll der Immobilienunternehmer der Gruppe zur Verfügung gestellt haben. Vor allem aber stand er laut Anklage an der Spitze einer strengen Hierarchie: Demnach mussten die Anhänger des Netzwerks nicht nur einen Eid auf den Prinzen leisten, sondern sich auch zur Verschwiegenheit verpflichten. Bei einem Verstoß drohte die Todesstrafe. Die Entscheidung darüber, so die Generalbundesanwaltschaft, sollte bei Prinz Reuß liegen.
Die Mauer der Verteidigung
Und trotzdem ist Reuß nicht allein. Zahlenmäßig sitzen den drei Vertretern der Bundesanwaltschaft mehr als drei Fußballmannschaften gegenüber. Die neun Angeklagten werden von 25 Anwältinnen und Anwälten verteidigt. Und die lassen gleich am ersten Verhandlungstag keinen Zweifel an ihrer Verteidigungsstrategie: Konfrontation statt Kooperation. Noch vor der Anklageverlesung stellen sie etliche Anträge - etwa auf Nichtverlesung der Anklage, auf Aufzeichnung des Prozesses und auf Ablehnung des Richters. Kaum eine Erklärung des Vorsitzenden Richters Jürgen Bork genügt ihnen - beinahe immer steht ein "Aber" im Raum.
Nun gehört genau das zum Job eines guten Verteidigers. Die Aufgabe der 25 Juristen auf der rechten Seite des Verhandlungssaals ist es, die Mauer der Unschuldsvermutung hochzuhalten, Zweifel zu säen, für prozesstaktische Anträge zu kämpfen. Auch überrascht es kaum, dass die Verteidigung von Prinz Reuß zum Prozessauftakt in möglichst viele Kameras betont, dass der 72-Jährige "kein Anführer, kein Rädelsführer und kein Mitglied einer terroristischen Vereinigung" sei.
Eine Aussage des Verteidigers Martin Schwab lässt dann allerdings doch aufhorchen. "Es wird sich erweisen, dass wir es hier mit dem größten Missbrauch der deutschen Rechtspflege zu tun haben", sagt der Verteidiger zu Richter Bork. Eine Antwort erhält er nicht. Schwabs Behauptung hat trotz beruflicher Befangenheit einen Beigeschmack - vor allem vor dem Hintergrund des Falles. So klingt auch sie nach einer grundsätzlichen Ablehnung des Staates. Dass der Anwalt seit der Pandemie Teil der "Querdenken-Bewegung" ist, wie die "Süddeutsche Zeitung" herausfand, überrascht damit ebenso wenig wie die Auswahl der Verteidiger durch den mutmaßlichen Verschwörer Reuß.
Die Herausforderung
Für den Prinzen und seine Anhänger geht es um Hochverrat, Terrorvorwürfe und Waffendelikte. Sollten sie in mehreren Punkten schuldig gesprochen werden, drohen ihnen bis zu 15 Jahren Haft. Bis zum Urteil, das frühestens im kommenden Jahr fällt, gilt die Unschuldsvermutung.
Damit geht die richtige Arbeit für die Kammer am OLG Frankfurt jetzt erst los. Eine zentrale Herausforderung für das Gericht zeichnete sich allerdings bereits am ersten Verhandlungstag ab: Weder Prinz Reuß, der Herr auf der Anklagebank, der dreinschaut, als hätte er sich verirrt, noch seine größtenteils über 50 Jahre alten Mitangeklagten wirken wie Terroristen mit schlimmsten Gewaltfantasien. Wer die miteinander scherzenden und dennoch zurückhaltenden Männer und Frauen in ihren Blazern und Jacketts beobachtet hat, dürfte an viel denken, aber nicht an eine ernsthafte Bedrohung für die Demokratie. Und trotzdem sprechen etliche Indizien - Telefonaufzeichnungen, abgespeicherte Pläne, Fotos und nachweisbare Verbindungen in andere militante Szenen - gegen sie.
Quelle: ntv.de